"Wir sind alle Sternenstaub"

erschienen in Zeit Magazin 31/08

Martin Rees, Hofastronom der Queen und Professor in Cambridge, erklärt im Gespräch mit Stefan Klein, warum unser Universum vermutlich Geschwister hat und was es mit Schwarzen Löchern auf sich hat

 

Professor Rees, was macht ein Hofastronom?

 

Ach, das ist nur ein Ehrentitel. Er geht auf das Jahr 1675 zurück, als der königliche Astronom dem Observatorium von Greenwich vorstand. Heute sind die Pflichten dieses Amtes dermaßen spärlich, dass man es eigentlich auch posthum ausüben könnte.

 

Ihre Untersuchungen an Quasaren haben entscheidende Hinweise auf den Urknall gegeben. Haben Sie der Queen schon einmal erklärt, was ein Quasar ist?

 

Wir haben uns nie darüber unterhalten. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, würde ich ihr sagen, dass es sich um riesige schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien handelt. Diese saugen Gas ein, das stärker als alles andere im Kosmos leuchtet, bevor es in das schwarze Loch stürzt – heller als tausend Milliarden Sonnen.

 

Und was hat das mit dem Urknall zu tun?

 

Wir standen vor dem Rätsel, weshalb man umso mehr Quasare findet, in je größerer Entfernung von der Erde man sucht. Mit meinem Kollegen Dennis Sciama konnte ich zeigen, dass die Urknalltheorie die richtige Antwort gibt: Die meisten Quasare entstanden im jungen Universum. Und weil das All sich ausdehnt, sind sie sehr weit von uns entfernt. Das war 1965.

 

Heute wissen wir, dass Quasare tatsächlich zu den ältesten sichtbaren Objekte im Weltraum gehören: Erst vor kurzem wurden Quasare entdeckt, die vor mindestens 13 Milliarden Jahren entstanden. Was fasziniert Sie so an diesem Phänomen?

 

Die Physik am Rand eines supermassiven schwarzen Lochs ist sehr interessant. Da können wir Einsteins Theorien testen, und es ergeben sich bemerkenswerte Effekte. So werden oberhalb und unterhalb des Gasstrudels Materieströme mit enormer Geschwindigkeit ins Weltall gestoßen. Der vor kurzem verstorbene Arthur Clarke, der den Science Fiction „2001 – Odyssee im Weltraum“ verfasste, fragte mich einmal, ob diese Jets nicht auch die Hervorbringung einer höchst entwickelten Zivilisation sein könnten.

 

Galaktische Leuchtfeuer?

 

Vielleicht.

 

Wenn aber die Quasare bald nach der Geburt des Universums entstanden, hätte eine in ihrer Nachbarschaft lebende Zivilisation schwerlich Zeit gehabt, um sich zu entwickeln.

 

Das ist ein Problem. Aber die Jets findet man auch bei anderen, neueren supermassiven schwarzen Löchern.

 

Wollten Sie schon immer das Universum erforschen?

 

Überhaupt nicht. Ich begann als Mathematiker, merkte dann aber, dass ich die Mathematik nicht um ihrer selbst willen betreiben wollte. Also suchte ich ein Gebiet, wo ich das anwenden konnte, was ich nun einmal gelernt hatte. Um ein Haar wäre ich Wirtschaftswissenschaftler geworden! Aber nach einem guten Jahr erwiesen sich die Quasare, die damals gerade erst entdeckt worden waren, als eine gute Wahl.

 

Ich selbst habe einmal erwogen, Astrophysiker zu werden. Aber mit meinen damals 25 Jahren erschienen mir die Sterne zu weit weg – wo es doch so viel Erstaunliches direkt unter unseren Augen zu erforschen gibt.

 

Die Sterne sind uns viel näher, als Sie damals vielleicht dachten. Dort herrschen dieselben Naturgesetze wie auf der Erde, nur unter extremen Bedingungen. Immerhin ist der Kosmos unser Lebensraum. Mit sämtlichen Menschen, die je gelebt haben, teilen wir denselben Blick auf die Sterne. Und schließlich sind wir selbst Sternenstaub.

 

Wie alles auf der Erde bestehen wir aus den Überresten längst erloschener Himmelskörper.

 

So ist es. Sämtliche Elemente entstanden in den Sternen durch Kernfusion aus Wasserstoff und Helium. Wenn Sie weniger romantisch veranlagt sind, können Sie die Menschen auch als stellaren Atommüll bezeichnen.

 

Es müssen aufregende Zeiten sein für jeden, der das Weltall erforscht. „Die Kosmologie erlebt eine Revolution“, hat Ihr Kollege Charles Bennett vor kurzem erklärt.

 

So ist es. Dank neuer Teleskope, aber auch der Rechenleistung von Supercomputern können wir heute die Entstehung des Universums mindestens zwölf Milliarden Jahre zurückverfolgen. Damit verstehen wir, wie aus einem ungeordneten Zustand die ersten Sterne und Galaxien entstanden, und wie sie sich bis in die Gegenwart entwickelten. Noch aufregender finde ich, dass wir seit gut zehn Jahren einen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems nach dem anderen entdecken. Ich hoffe, dass wir bald einen erdähnlichen Planeten aufspüren werden.

 

Mit genau diesem Ziel will die NASA im kommenden Februar ihre Raumsonde Kepler ins All schießen.

 

Damit eröffnen sich neue Perspektiven. Die jetzigen Instrumente erkennen nämlich nur Riesenplaneten von der Größe ungefähr des Jupiter. Leben könnte es zwar auch dort geben. Aber noch interessanter wäre ein Planet, auf dem es so aussieht, wie auf der Erde zu der Zeit, als das Leben entstand.

 

Wie stehen die Chancen?

 

Planeten wie den unseren werden wir wohl finden. Ich bezweifle allerdings, dass wir in nächsten 20 Jahren schon genug Hinweise auf Biosphären dort haben werden. Trotzdem: Auf Leben irgendwo in der Milchstraße würde ich wetten – und erst recht auf Leben in anderen Galaxien.

 

In den weitaus größten Teil des Kosmos können selbst die besten Teleskope nicht vordringen. Denn diese Regionen sind so weit entfernt, dass das Licht seit der Entstehung des Universums nicht genug Zeit hatte, um zu uns reisen.

 

Das ist, wie wenn Sie auf hoher See den Mast eines Schiffes erklettern. Sie sehen nur bis zum Horizont, müssen aber annehmen, dass sich der Ozean dahinter sehr viel weiter erstreckt.

 

Nach den Daten aber, die zwei Forschungssatelliten namens COBE und WMAP in den letzten Jahren lieferten, müssen wir annehmen, dass das All viele Tausend Mal größer ist als der kleine Bereich, den wir sehen. Was mag sich in diesen verborgenen Regionen abspielen?

 

Die Satellitenmessungen deuten darauf hin, dass es hinter dem Horizont noch sehr lange so weiter geht wie im sichtbaren Kosmos. Aber sicher können wir natürlich nicht sein.

 

Wie kann man angesichts dieser Dimensionen an der Existenz von außerirdischem Leben noch zweifeln? Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo Leben aufkeimt, mag ja verschwindend gering sein. Betrachtet man aber die unzähligen Sonnensysteme des Kosmos, erscheint es doch so gut wie sicher, dass es wiederholt geschah.

 

Sie haben Recht. Zudem werden wir durch biologische Experimente in den nächsten zwei Jahrzehnten hoffentlich mehr darüber erfahren, wie aus toter Materie Leben entsteht. Allerdings ist es zumindest logisch nicht ausgeschlossen, dass wir in unserer Galaxie allein sind.

 

Sie haben einmal erklärt, dass es Ihnen lieber so wäre. Warum?

 

Weil es uns ein Stück kosmisches Selbstbewusstsein rauben würde, wenn außer uns noch andere da wären. Andererseits wäre eine belebte Milchstraße natürlich viel interessanter.

 

Aber ist die Menschheit so reif, dass sie die Nachricht, in kosmischer Gesellschaft zu sein, verkraften würde?

 

Ich denke nicht, dass diese Erfahrung sehr traumatisch ausfallen müsste. Vielleicht kämen ihre kulturellen Folgen ungefähr denen der Entdeckung Amerikas gleich.

 

Mögen Sie Science Fiction?

 

Viele Ideen darin finde ich sehr anregend. Darum rate ich meinen Studenten, lieber erstklassigen Science Fiction als zweitklassige wissenschaftliche Veröffentlichungen zu lesen.

 

In Stanislaw Lems Roman „Solaris“ entdecken Forscher auf einem fernen Planeten einen sonderbaren Ozean. Dieser stellt sich als ein mit Intelligenz begabter Organismus heraus, aber die Wissenschaftler finden keinen Weg, sich mit ihm zu verständigen. Die Unterschiede zwischen den Menschen und dieser Lebensform sind zu groß - ein plausibles Szenario.

 

Vielleicht gibt es tatsächlich Lebensformen und Intelligenzen, die wir noch nicht einmal als solche erkennen. Ebenso gut möglich ist es aber, dass uns andere Zivilisationen absichtlich eine Botschaft senden, die sie so abgefasst haben, dass wir sie verstehen. Doch viel eher dürften wir wohl auf sehr einfache Lebensformen stoßen – oder auch nur auf deren Überreste. Schon dies wäre eine faszinierende Entdeckung. Darum unterstütze ich alle erdenkliche Forschung nach außerirdischem Leben.

 

Dahinter steht eine grundsätzliche Frage: Weshalb ist das Universum so, dass in ihm überhaupt Leben aufkommen konnte?

 

Natürlich. Man kann sich jede Menge Universen ausdenken, in denen Leben von vornherein ausgeschlossen ist. Das unsere hingegen ist sehr fein austariert. Bestünde es zum Beispiel aus weniger Elementarteilchen, könnten keine komplexen Strukturen entstehen. Enthielte es hingegen zu viel Materie, dann wäre der ganze Kosmos schnell wieder in sich zusammengestürzt. Und mit einer nur ein wenig stärkeren Gravitation wären die Sterne viel kleiner und würden ausbrennen, lange bevor Leben entstehen kann.

 

Diese geradezu unglaubliche Balance, die alles erst möglich machte, vermag die heutige Kosmologie nicht zu erklären.

 

Darin liegt eine der wichtigsten Aufgaben für die Wissenschaft im 21. Jahrhundert: Herauszufinden, ob wir diese Konstanten erklären können – oder ob wir sie einfach hinnehmen müssen.

 

Einstein, Heisenberg und viele andere Physiker haben nach einer „Weltformel“ gesucht. Sie sind gescheitert.

 

Aber die meisten Kollegen hoffen noch immer, dass sich dieser Traum eines Tages erfüllt.

 

Sie verfechten eine andere Lösung...

 

... ich verfechte gar nichts. Ich bin nur für alle Möglichkeiten offen.

 

Sie verfechten eine andere Lösung...

 

... ich verfechte gar nichts. Ich bin nur für alle Möglichkeiten offen.

 

Eine Möglichkeit wäre, dass unser Universum nur eines von vielen ist. Es hat Geschwister.

 

Ja.

 

Die allermeisten davon sind unwirtlich. In manchen Universen aber – darunter dem unseren - sind die Naturkonstanten zufällig so beschaffen, dass es Leben geben kann.

 

Das ist ungefähr so, wie Sie nicht unbedingt einen Maßanzug brauchen, um gut auszusehen. Sie müssen nur in ein großes Bekleidungshaus gehen. Wenn dieses genug Auswahl hat, finden Sie immer ein Sakko von der Stange, das passt. Ganz analog wäre in auch einer großen Kollektion an Universen mit hoher Wahrscheinlichkeit eines dabei, das sich eignet für die Entstehung von Leben.

 

Die Schöpfung als riesiges Shopping-Center - so habe ich es noch nie gehört. Die Frage bleibt natürlich: Wer oder was hat die Kollektion entworfen?

Mehreren glaubhaften Theorien zufolge ist die Beschaffenheit eines Universums nicht nach einem von Beginn an feststehenden Plan gegeben, sondern wird während Urknalls zufällig festgelegt.

 

 

Sie meinen die Inflationstheorie, die es in verschiedenen Spielarten gibt. Die gängigste Vorstellung ist, dass sich das Universum am Beginn der Zeit schlagartig aufgebläht hat. Erst war es weitaus kleiner als ein Atom, dann plötzlich annähernd so groß wie heute.

 

Ganz genau. Nun muss man wissen, dass es in der subatomaren Welt zufällige Schwankungen gibt, die so genannten Quantenfluktuationen. Als sich bei während der Inflation der ganze Raum ausdehnte, wurden auch diese Fluktuationen auf kosmischen Maßstab vergrößert...

 

... und bildeten sozusagen die Grundlage für alle späteren Strukturen im Universum. Als ich mich vor gut zehn Jahren mit Kollegen von Ihnen über die Inflationstheorie unterhielt, hatte ich den Eindruck, dass sie diese Vorstellung zwar als interessante Spekulation ansahen – aber nicht übermäßig ernst nahmen. Was hat sich seitdem geändert?

 

Die beiden von Ihnen genannten Forschungssatelliten lieferten neue Daten über die kosmische Hintergrundstrahlung. Das ist eine Strahlung, die ungefähr etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall entstand und seither das ganze Weltall erfüllt. Sie ist eine Art Nachglühen des Urknalls und enthält die älteste Information, die man überhaupt aus dem Kosmos bekommt. Und die neuen Messungen haben mehrere Voraussagen der Inflationstheorie bestätigt.

 

Und nach manchen Varianten der Inflationstheorie gab es nicht einen Urknall, sondern viele davon. Und bei jedem entstand ein neues Universum. Sie alle existieren nebeneinander. Das unsere wäre dann nur ein Teil einer ganzen Galerie von Universen – dem Multiversum.

 

Eben. Die Naturgesetze, die das Leben ermöglichen, würden dann nur in unserer kleinen Provinz gelten.

 

Erstaunlich ist, wie die so genannte „chaotische Inflationstheorie“ die Geburt eines Universums beschreibt: Der leere Raum ist von einer Energie erfüllt, die unter bestimmten Bedingungen eine Inflation auslösen kann. Dann bläht sich ein Kosmos auf, als entstünde eine Welt aus dem Nichts. Die Einsteinschen Gleichungen geben das her. Irritierend finde ich die Vorstellung trotzdem.

 

 

Statt „aus dem Nichts“ sollte man besser „eine Welt aus dem Vakuum“ sagen. Denn der leere Raum ist eben nicht nichts. Auch im Inneren von Schwarzen Löchern könnte sich der Raum öffnen und ein neues Universum bilden.

 

Dieses neue Weltall hätte überhaupt keine Verbindung zum Unseren mehr ...

 

Nein.

 

... wie lässt sich dann feststellen, dass es überhaupt existiert?

 

Wir werden die anderen Universen nie direkt sehen können. Aber die chaotische Inflationstheorie macht noch weitere Voraussagen – etwa über die Natur der Schwerkraft in unserem Universum – die sich sehr wohl überprüfen lassen. Wenn die alle zutreffen, ist anzunehmen, dass die ganze Theorie stimmt. Schwarze Löcher sehen Sie schließlich auch nicht, trotzdem haben wir Hinweise genug, um sicher zu sein, dass es sie gibt.

 

Ein neues Universum hat im Moment seiner Entstehung sogar einen eigenen Anfang der Zeit. Meine Vorstellungskraft stößt da an ihre Grenzen. Wie denken Sie über solche Theorien nach?

 

Ich versuche mir auf dem Papier oder auch nur im Kopf Bilder zu machen – so gut es eben geht. Damit umzugehen fällt mir leichter als mit mathematischen Formeln. Also da hätten wir etwa ein Universum hier, ein anderes da, und jedes sieht aus wie ein kleines schwarzes Loch seines Geschwisters ...

 

Ich fürchte, das hilft mir nicht wirklich. Könnte es nicht sein, dass Menschen bei der Erforschung des Weltalls generell damit ringen, dass ihr Gehirn nicht dafür gemacht ist, diese Realität zu erfassen?

 

Sicherlich. Unsere Gehirne sind für das Überleben in der afrikanischen Savanne gemacht, nicht für Kosmologie. Aber das Problem haben wir genauso in der Quantenphysik – und sind dennoch erstaunlich erfolgreich. Unsere ganze Elektronik beruht darauf, dass Physiker Quantenphänomene berechnen können.

 

Und doch begreift kein Mensch, was es eigentlich heißt, dass ein Elektron eine „Überlagerung verschiedener Zustände“ ist, wie es die Quantenmechanik behauptet. Vielleicht hatte Einstein ja Recht, und gibt es einen kosmischen Plan – doch menschliche Gehirne sind ungeeignet, ihn zu erfassen.

 

Es würde mich keineswegs überraschen, wenn es so wäre. Andererseits mag sich auch herausstellen, dass die Verhältnisse in unserem Universum rein zufällig sind, weil es nur eines von vielen ist. Aber wie Sie sagten: Dann könnte sich die Frage stellen, woher eigentlich die Gesetze der größeren Einheit, dem Multiversum, kommen. . Das Problem wäre also wieder nicht gelöst, nur verschoben.

 

 

Es heißt, Sie besuchen regelmäßig den Gottesdienst.

 

Ich wurde als Mitglied der Kirche von England erzogen und befolge einfach die Gebräuche meines Stammes. Die Kirche ist Teil meiner Kultur, ich mag die Rituale und die Musik. Wäre ich im Irak groß geworden, so ginge ich in die Moschee.

 

Empfinden Sie da keinen Konflikt mit Ihrem wissenschaftlichen Weltbild?

 

Überhaupt nicht. Mir scheint, dass die Leute, die die Religion angreifen, sie nicht wirklich verstehen. Wissenschaft und Religion können friedlich nebeneinander existieren. Allerdings denke ich, dass sie einander nicht viel zu sagen haben. Am liebsten wäre mir, Wissenschaftler würden das Wort „Gott“ gar nicht gebrauchen.

 

Immerhin haben Wissenschaft und Religion dasselbe Grundmotiv: Das Staunen der Menschen darüber, dass sie in eine größere Wirklichkeit eingebunden sind.

 

Das stimmt. Aber gerade die Grundlagenphysik zeigt, wie schwer wir uns tun, schon die einfachsten Dinge der Welt zu begreifen. Da wird man schon sehr skeptisch, wann immer jemand erklärt, er habe irgendeine tiefere Wirklichkeit zu fassen bekommen.

 

Können Sie glauben, was in der Kirche gepredigt wird?

Nein. Ich weiß doch, dass wir noch nicht einmal das Wasserstoffatom verstehen – wie könnte ich da an Dogmen glauben? Ich bin ein praktizierender, aber kein gläubiger Christ.

 

Sie sind ja auch als Forscher weder allzu geneigt zu glauben, noch scheinen Sie übermäßige Schwierigkeiten mit Widersprüchen zu haben. Unter Kollegen sind Sie dafür bekannt, dass Sie oft an zwei gegensätzlichen Theorien gleichzeitig arbeiten. Andere führen Grabenkämpfe darüber, ob die Naturkonstanten nun Zufall sind oder nicht, ob es ein Universum gibt oder viele.

 

Ich finde es irrational, sein Herz an eine Theorie zu hängen. Da lasse ich verschiedene Ideen lieber wie Pferde im Rennen gegeneinander antreten und sehe zu, welche gewinnt.

 

Sie sind ein intellektueller Spieler.

 

Nein, ich suche nach der richtigen Antwort. Und dabei sind Emotionen nun einmal wenig hilfreich.

 

Gibt es überhaupt Themen, bei denen Sie emotional werden?

 

Ja, in der Politik. Ich wuchs als ziemlich altmodischer Sozialist auf. Ich bin sehr besorgt über die zunehmende Ungleichheit und darüber, dass es uns nicht gelingt, die dritte Welt an den Vorzügen der Globalisierung teilhaben zu lassen. Denken Sie nur an Afrika: Alle Mittel, um die Armut dort zu beseitigen, existieren, werden aber nicht eingesetzt.

 

Sie haben der Menschheit ein noch schlimmeres Zeugnis ausgestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Zivilisation das gerade begonnene Jahrhundert überlebt, schätzen Sie auf gerade einmal 50 Prozent. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

 

Es ist eine Schätzung. Ordentlich berechnen können Sie ja nur die Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen, die häufig eintreten, wie Blitzschläge oder Lotteriegewinne. Ich orientierte mich an den inzwischen bekannten Gefährdungen der letzten Jahrzehnte. Während des kalten Krieges etwa war die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Weltuntergangs alles andere als gering. Denn die Atomraketen waren miserabel gesichert. Wir hatten nur Riesenglück. Heute sind die Systeme besser. Doch innerhalb der nächsten fünfzig Jahre kann es zu einer neuen Konfrontation zwischen Supermächten kommen. Hinzu kommen all die Bedrohungen, die es damals noch nicht gab, etwa durch genmanipulierte Mikroorganismen. Ich finde meine Schätzung keineswegs zu pessimistisch.

 

Sie stehen auch zu Ihrer Wette, dass in den nächsten 20 Jahren eine Million Menschen oder mehr bei einem Anschlag mit Biowaffen oder durch ein von der Biotechnologie verursachtes Unglück umkommen werden? Darauf haben Sie 1000 Pfund gesetzt.

 

Aber ja. Natürlich hoffe ich, dass ich die Wette verliere.

 

Wie haben denn die Kollegen auf Ihre Prophezeiungen reagiert?

 

Fast alle haben mir zugestimmt – zu meiner eigenen Überraschung. Mir scheint es nicht zu bestreiten, dass die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts erstens von den Menschen selber ausgehen und zweitens größer sind als zu früheren Zeiten. Denn dass wir so viele sind wie nie zuvor und durch Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Klimawandel und so weiter unsere Lebensgrundlagen gefährden, ist ja noch nicht die ganze Geschichte. Zusätzliche Risiken entstehen dadurch, dass wir in einer immer stärker vernetzten Welt leben.

 

Welche Gefahr geht vom Internet aus?

 

Das Internet erweitert den Horizont der Menschen nicht nur, es eignet sich auch, um Vorurteile extrem zu verstärken. Kleine Gruppen mit extremen Ansichten finden Gleichgesinnte auf der ganzen Welt, können sich organisieren und bekommen leicht Zugang zu technischem Wissen. Und weil die Massenmedien die psychologische Wirkung jeder verwirrten Aktion potenzieren, kann heute eine Handvoll Leute eine enorme Macht ausüben. Die Politik muss auf diese Herausforderung reagieren.

 

Wie soll sie?

 

Ich weiß keine Patentlösung. Vorgeschlagen wurde etwa eine vollständig transparente Gesellschaft, in der jeder jeden überwacht. Nicht die Regierung, sondern Ihre Mitbürger sollen Ihnen jederzeit bei allem zusehen können, was sie tun.

 

Das klingt schauerlich.

 

Aber man kann sich schnell daran gewöhnen. In England haben wir uns ja schon abgefunden damit, dass Videokameras uns auf jedem Schritt beobachten. Entscheidend ist, dass diese Fragen diskutiert werden. Vielen potentiell verheerenden Ereignissen schenken wir zu wenig Aufmerksamkeit – und investieren zu wenig, um sie zu verhindern. Denken Sie nur an Pandemien.

 

Was können Wissenschaftler dagegen tun?

 

Sie können als Experten Politiker beraten. Und als Bürger sollten sich sie viel öfter direkt in die Politik einmischen.

 

Meinen Sie, dass Wissenschaftler klügere Entscheidungen treffen als andere Bürger?

 

Sie bringen eine besondere Perspektive mit. Ich als Astrophysiker zum Beispiel bin es gewohnt, in sehr langen Zeiträumen zu denken. Vielen Menschen erscheint ja schon das Jahr 2050 unvorstellbar weit entfernt. Mir hingegen ist ständig bewusst, dass wir das Ergebnis von vier Milliarden Jahren Evolution sind – und dass die Zukunft der Erde mindestens noch einmal so lange dauern wird. Wenn Ihnen ständig vor Augen steht, wie viele Generationen noch auf uns folgen können, werden Sie zu vielen Fragen der Gegenwart eine andere Haltung einnehmen. Ihnen wird deutlich, um wie viel es geht.

 

Vorausgesetzt es gelingt, unsere Zukunft nicht zu verspielen: Haben Sie eine Vorstellung von den nächsten vier Milliarden Jahren?

 

Wir heutigen Menschen sind gewiss nicht der Gipfel der Schöpfung. Intelligentere Arten, als wir es sind, werden die Erde bewohnen. Sie könnten sogar schon recht bald auftauchen. Denn die Evolution wird heute nicht mehr von der langsamen natürlichen Entwicklung angetrieben, wie Darwin sie beschrieb, sondern durch die menschliche Kultur. Vielleicht wird eine postmenschliche Intelligenz also von uns selber gemacht sein. Und ich hoffe, dass unsere Nachfolger die Welt besser verstehen.