"Strategien, die man lernen kann"
WELT am Sonntag: Kann man Ihr neues Buch über die Macht des Zufalls lesen und trotzdem an Gott glauben?
Stefan Klein: Natürlich.
Aber sie erklären, warum wir uns Vorsehung nur einbilden, oder dass der Mensch eben nicht Krone der Schöpfung sondern zufälliges Ergebnis der Evolution ist. Müssen Leser die Bibel gegen „Alles Zufall“ austauschen?
Klein: Beide können sehr gut im selben Bücherregal Platz finden. Eine gewisse Bescheidenheit gegenüber religiösen Vorstellungen steht Wissenschaftlern gut an. Ich erkläre im Buch, warum Menschen an Religion glauben. Dafür gibt es evolutionär gesehen gute Gründe.
Die wären?
Klein: Grundsätzlich tut unser Gehirn gut daran, sich nicht zu schnell mit der Erklärung „Zufall“ abspeisen zu lassen. Nur der wird klüger, der den Wunsch verspürt, in der Welt einen Sinn zu erkennen.
Aber Sie selbst glauben nicht an Schicksal.
Klein: Stimmt, aber das ist wirklich eine Sache des Glaubens. Die mathematische Logik zeigt, dass man den Zufall nicht beweisen kann – nur die Abwesenheit von Zufall. Unser Wissen über die Welt ist aber sehr viel geringer als wir denken. Was nützt uns ein Glauben an höhere Pläne, die wir doch nicht lesen können?
Kann der Glaube an Metaphysik aller Art, sei es Religion, New Age oder Schicksal, nicht auch nützlich sein?
Klein: Manche Menschen ziehen innere Ausgeglichenheit daraus. Es hilft jedoch, sich bewusst zu machen, in welchem Maße dies von uns konstruierte Vorstellungen sind. Dass ein Sinn nicht einfach da ist, sondern wir es sind, die unserem Leben diesen Sinn geben.
Komme ich nun also besser durchs Leben, wenn ich an den Zufall glaube oder an das Schicksal?
Klein: Die Wissenschaft hat gezeigt, dass wir Menschen stets dazu neigen, unsere Kenntnis der Dinge zu überschätzen. Das ist eine Fehlanpassung, insbesondere in einer immer komplizierteren Welt, und dafür bezahlen wir teuer. Wir kommen besser durchs Leben, wenn wir uns klar machen, dass wir weniger über unsere Umgebung und Zukunft wissen als wir glauben. Ob wir diese Macht, die wir nicht in der Hand halten, nun Zufall nennen, oder ein Schicksal, auf das wir auch keinen Einfluss haben, ist zweitrangig.
Wenn es also keine Sinn stiftenden höheren Mächte gibt, sind wir hilflose Opfer des Zufalls?
Klein: Überhaupt nicht. Tatsächlich löst er zwar sehr viel mehr Begebenheiten in unserem Leben aus als wir glauben. Doch es ist uns überlassen, was wir daraus machen. Die psychologische Forschung zeigt, dass die erotische Anziehung zwischen zwei Menschen fast immer dem Zufall geschuldet ist. Mit wem ich einen Flirt habe, hängt davon ab, wer zufällig gerade dazu Lust hat und wie bereit ich bin. Aber ich habe sehr wohl die Freiheit zu wählen, wann es bei einem Flirt bleibt, aus welchen Begegnungen eine kurze Affäre oder eine längere Beziehung wird und mit welchem Partner ich mein Leben lang zusammen bleiben will.
Viele suchen den einen Partner, der für sie bestimmt ist.
Klein: Wir täten gut daran, den Zufall als Auslöser vieler Lebenssituationen stärker anzuerkennen und zu sehen, dass er uns Chancen bietet, aus denen wir etwas machen müssen.
Keine Liebe auf den ersten Blick, kein Weißer Ritter, kein Schicksal. Ganz schön unromantisch.
Klein: Es ist einfach die Realität. Unromantisch finde ich im Übrigen die Vorstellung, wie eine Marionette an den Fäden eines Schicksals zu hängen.
Was sagt Ihre Frau dazu?
Klein: Es ist jedem unbenommen, sich eine Romantik dazu zu träumen. Meine Frau und ich stellen uns oft vor, dass wir uns schon 25 Jahre früher hätten begegnen können. Wir waren nämlich als Kinder gleichzeitig am selben Urlaubsort...
... so ein Zufall...
Klein:... eben. Das sind doch sehr romantische Vorstellungen. Poesie und Vernunft schließen einander nicht aus – sie bestärken einander.
Aber planen können Sie angesichts solcher Wendungen nicht.
Klein: Doch. Nehmen sie die Fußball-EM. Als im Halbfinale Tschechien gegen Griechenland, Pavel Nedved, der stärkste Spieler des Favoriten, mit einem griechischen Gegenspieler kollidierte, musste er vom Platz. Die Folge: Griechenland kam ins Finale, Rehagel wurde zum attischen Nationalhelden und hätte deutscher Nationaltrainer werden können. Aber all das war nur möglich, weil Rehagel eine Taktik hatte, der die anderen Teams schlecht gewachsen waren. Sie können so planen, dass Sie unter vielen möglichen Umständen gut dastehen. Dafür gibt es Strategien, und die kann man lernen.
Ihr letztes Buch, „Die Glücksformel“, war ein Bestseller, auch weil die Menschen sich davon eine Anleitung zum Glücklichsein erhofften. Wo hilft mir ein Buch über den Zufall – beim Roulettespiel?
Klein: Der größte Nutzwert der „Glücksformel“ ist, dass die Menschen sich selbst besser verstehen. Nur wem das gelingt, der kann sein Verhalten und Denken ändern – platte Patentrezepte helfen nicht weiter. Diesen Effekt erhoffe ich mir auch beim neuen Buch.
Spendet es Trost bei Schicksalsschlägen?
Klein: Ich denke ja. Menschen neigen beim Tod eines nahen Angehörigen oder schwerer Krankheit dazu, sich selbst eine Verantwortung dafür zuzuschreiben. Das weiß man von Überlebenden von Katastrophen, aber auch von Krebskranken. Diese Selbstvorwürfe sind in den allermeisten Fällen unberechtigt. Wenn sich der betroffene Mensch nach Lektüre meines Buches erstens klar macht, dass Krebs fast immer durch zufällige Prozesse im Genom entsteht und er zweitens versteht, warum sein Gehirn dennoch die fatale Illusion erzeugt, falsch gelebtes Leben könne die Ursache sein - dann bin ich überzeugt, dass das sehr hilfreich sein kann.
... warum die Illusion?
Klein: Wie gesagt – weil wir den Zufall nicht wahrhaben wollen. Die Evolution hat uns darauf programmiert, nach Zusammenhängen zu suchen.
Droht in einem von Zufällen gesteuerten Leben ohne übergeordneten Sinn nicht Beliebigkeit? Wozu noch Verantwortung übernehmen?
Klein: Verantwortungsvoll zu handeln bedeutet realitätsnah zu handeln. Wenn Sie sich Ihrer eigenen Grenzen bewusst sind, können Sie risikobewusst planen. Normalerweise bauen wir nur für die eine Folge von Geschehnissen vor, die wir für die wahrscheinlichste halten. Viel besser ist es, verschiedene Szenarien einzukalkulieren, sich also mehreren möglichen Zukünfte vorzustellen.
Wieso verkaufen sich populärwissenschaftliche Bücher wie Ihre eigentlich derzeit so gut?
Klein: Menschen suchen nach Orientierung, die begründet ist. Die „Glücksformel“ war so erfolgreich, weil sie für Dinge, die bisher weltanschaulich behandelt wurden ...
... „Du sollst Deine Wut rauslassen, dann geht es dir besser“...
Klein:... in diesem Fall eher: „Du sollst Deine Wut nicht rauslassen“. Für solche Dinge also hat das Buch Begründungen gegeben, die gut belegt sind, aber auch durch fortschreitende Forschung in Zukunft widerlegt werden können. Das ist die wissenschaftliche Methode.
Sie sind ja ein klassischer Aufklärer, stellen – wie einst Kant die Metaphysik – die heute weit verbreitete Alltags-Esoterik vom Kopf auf die Füße.
Klein: Ich wünsche mir schon einen aufklärerischen Effekt durch meine Bücher. Wenn meine Leser durch die Lektüre über bestimmte Dinge anders denken, bin ich zufrieden.
Aber nicht nur Sie verkaufen viele Bücher, auch esoterischer Humbug wie Feng Shui, „Der Bibel Code“ oder „Krankheit als Weg“ sind Bestseller. Zwei Lesergruppen – und zwei gesellschaftliche Fraktionen –, die sich nichts mehr zu sagen haben?
Klein: An beiden Enden des Spektrums vielleicht. Die meisten Besucher meiner Lesungen bewegen sich aber irgendwo zwischen diesen Extremen, suchen nach Orientierung und sind gegenüber verschiedenen Ansätzen offen. Ich sehe mich nicht als jemanden, der letztgültige Weisheiten verkünden will. Meine Bücher sind ein Angebot zum Dialog.
Ein Angebot, das verblüffend viele annehmen. Von der „Glücksformel“ wurden bislang ?? Exemplare verkauft.
Klein: Wir haben intelligente Leser, die vielleicht bisher nicht ausreichend bedient wurden. Die Menschen haben gemerkt, dass Wissenschaft auch spannende Unterhaltung sein kann.
Wie bei den Wissens-Shows im Fernsehen?
Klein: Das ist dasselbe Phänomen. Die Privatsender bringen solche Sendungen ja nicht aus einem Bildungsauftrag heraus, sondern weil die Menschen das sehen wollen.
Ein schlechtes Zeugnis für die Schulen? Menschen lernen plötzlich gern Dinge, die sie im Klassenraum nicht verstanden haben?
Klein: Nicht per se. Die Neugierde muss ja irgendwo geweckt werden. Je gebildeter Menschen sind, desto eher greifen sie zu einem populärwissenschaftlichen Buch. Die Schwellenangst ist niedriger. Dennoch könnte die Schule sehr viel mehr tun.
Am besten gleich Ihre Bücher zum Unterrichtsstoff machen?
Klein: Warum nicht? Gerade Heranwachsende interessieren sich sehr dafür, wer sie sind und warum sie so sind.
Ein praktisches Fazit aus Ihren Studien zum Schluss: Börsentipps von Nachrichtensendern sollte man nicht trauen?
Klein: Egal, was die Finanzgurus erzählen – Aktienkurse verhalten sich weit gehend unberechenbar. Was da auf manchen Kanälen verbreitet wird, halte ich in der Tat für Desinformation.
Erschienen in: Welt am Sonntag 25.Juli 2004