Wie kommt das Gute in die Welt?

in: Die ZEIT, 22.12.2009

Wesley Autrey wartete mit seinen beiden kleinen Töchtern auf die U-Bahn, als  ein junger Mann neben ihm plötzlich zu zittern begann, sich verkrampfte und dann bewusstlos auf den Bahnsteig sank. Mehrere Passagiere eilten zur Hilfe, doch Autrey war schneller.  Geistesgegenwärtig fragte er nach einem Kugelschreiber und klemmte ihn dem Fremden zwischen die Zähne, damit dieser sich bei seinem epileptischen Anfall nicht auf die Zunge bisse. Nach kurzer Zeit gingen die Krämpfe vorbei, der Epileptiker stand auf, und Autrey glaubte, nun seine Heimfahrt durch den Untergrund von New York fortsetzen zu können.
Ein Rumpeln kündigte den Zug an. In diesem Moment taumelte der Mann erneut. Er schwankte auf die Bahnsteigkante zu, stolperte und fiel auf das Gleis. Autrey rief einer Wartenden zu, sich seiner Töchter anzunehmen, und versuchte, den Gestürzten wieder auf den Bahnsteig zu ziehen. Doch seine Hand glitt ab. Inzwischen fuhr der Zug ein, Autrey blieb keine Zehntelsekunde Zeit zum Nachdenken. Er sprang auf das Gleisbett, zerrte den Mann zwischen die Schienen und warf sich auf ihn. Schon fuhr der erste Waggon über beide, zwischen Autreys Scheitel und dem Zug blieben genau zwei Fingerbreit Luft.
Fünf Wagen rollten über ihn. Dann blieb der Zug stehen, und Autrey hörte das Schreien seiner Töchter. Als eine Rettungsmannschaft später beide Männer aus ihrem Gefängnis zwischen den Rädern befreite, tropfte Wagenschmiere von Autreys Mütze. Die Sanitäter stellten an dem Epileptiker nicht mehr als ein paar Prellungen fest; Autrey selbst verzichtete auf medizinische Hilfe. Ohnehin war er der Ansicht,  nichts Besonderes geleistet zu haben: „Ich sah nur einen Menschen, der Hilfe brauchte. Da tat ich, was zu tun war.“
Sein Einsatz in der Station an der  137.  Straße von Manhattan an jenem 2. Januar 2007 machte Autrey dennoch zu einem landesweit gefeierten Helden. Der bis dahin unauffällige Vorarbeiter wurde in Talkshows und ins Weiße Haus eingeladen, Medien und Politiker feierten ihn als Vorbild. Niemand allerdings schien zu bemerken, wie verstörend das Ereignis zugleich war: Was bringt einen Vater in Gegenwart seiner erst vier und sechs Jahre alten Kinder dazu, für einen Fremden sein Leben zu riskieren? Wie kann sich ein Mensch innerhalb weniger Augenblicke zur völligen Hingabe an einen anderen entschließen?

Millionen Fernsehzuschauer mochten Autrey bewundern, für die Wissenschaft aber bedeutet seine Tat eine echte Herausforderung. Denn nach ihren traditionellen Erklärungen hätten die Vorgänge unter der 137. Straße nie stattfinden dürfen. In der Verhaltensforschung setzte sich während der letzten Jahrzehnte ein Menschenbild durch, das uns als zutiefst eigennützige Wesen beschreibt. Biologen sehen uns auf maximalen Fortpflanzungserfolg programmiert, Evolutionspsychologen auf das Erringen von Status. Ökonomen, die wohl einflussreichsten aller Sozialwissenschaftler, verstehen menschliches Handeln mehrheitlich als Streben nach Bequemlichkeit und Wohlstand. Übereinstimmend beruhen alle Disziplinen auf der Annahme,  jeder sei sich selbst der Nächste und Altruismus eine Illusion.
Wie lässt sich dann aber erklären, dass sich immer wieder Menschen für andere selbstlos einsetzen und sogar wie Autrey ihr Leben dabei riskieren?  Helden mögen selten sein, doch darf man sie einfach als Ausnahme wegdiskutieren?  Im Zweiten Weltkrieg haben Hunderttausende  unter Todesgefahr Juden vor dem Konzentrationslager bewahrt. Und überwältigend viele Menschen sind bereit, für andere Schmerzen zu ertragen: So haben sich mehr als  drei Millionen Deutsche registrieren lassen, um sich per Operation Knochenmark entnehmen zu lassen und damit einem unbekannten Leukämiekranken zu helfen. iIn den Vereinigten Staaten haben sogar Webseiten Zulauf, auf denen Freiwillige eine ihrer Nieren zur Transplantation an Fremde anbieten  – ohne jede Gegenleistung. Diese Art der Organspende ist in Deutschland verboten.
Bei vielen wissenschaftlichen Rätseln ist es leicht zu verschmerzen, dass die Forschung an ihrer Lösung scheitert. Die schwer zu erklärenden altruistischen Akte aber werfen Fragen auf, die an jedes menschliche Zusammenleben und an unser Selbstverständnis rühren: Wie eigennützig, wie selbstlos können sich Menschen verhalten? Unter welchen Umständen stellen sie ihre eigenen Interessen zurück? Wie lässt sich das Engagement für andere fördern? Und: Hat Altruismus auch Schattenseiten?
 Bereits im Alltag passen zahllose Situationen nicht zu dem Bild vom Menschen, der nur an sich selbst denkt: Warum geben wir Trinkgeld, auch wenn wir wissen, dass wir ein Lokal nie wieder besuchen werden? Schwer ist der Eigennutz auch zu erkennen, wenn Menschen jahrelang bettlägrige Angehörige pflegen, ihr Geld Unbekannten in Not spenden oder ihre Freizeit einem Ehrenamt opfern, wie fast ein Drittel der Deutschen es tut. Auch würde Deutschland heute wohl anders aussehen, hätten vor genau zwanzig Jahren nicht erst Hunderte, später Zehntausende Montagsdemonstranten zum Nutzen ihrer Mitbürger der Stasi die Stirn geboten.
Und die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, scheint zuzunehmen. Beispielsweise engagieren sich  heute fast zwei  Millionen mehr Menschen in einem Ehrenamt als noch vor zehn Jahren. ii  iii Im Internet blühen ganz neue Formen von Kooperation und Selbstlosigkeit, bei denen Experten weltweit ihre Arbeitskraft verschenken. So entstanden beinahe über Nacht  die zehn Millionen Artikel der Wikipedia und die kostenlosen Open-Source Programme, die Konzernen wie Microsoft ernsthaft Konkurrenz machen.
Nach Jahren des Zynismus ist es offenbar schick geworden, sich engagiert und mitfühlend zu geben. Hollywoodstars wie Brad Pitt und George Clooney organisieren Hilfe für Katastrophenopfer und kämpfen gegen den Klimakollaps. Noch nie haben die Studios mit „Operation Walküre“, „John Rabe“,  den Epen um Che Guevara und die jüdischen Partisanen im besetzten Polen in so kurzer Zeit so viele Filme in die Kinos gebracht, die die Aufopferung einzelner feiern. Und das neueste Zuwachsgeschäft der Fremdenverkehrsindustrie heißt „Volunteering-Tourismus“: Viel beschäftigte Zeitgenossen buchen Urlaubsreisen, auf denen sie in südafrikanischen Kinderheimen oder brasilianischen Naturschutzgebieten arbeiten, statt am Strand zu bräunen.
Nicht zuletzt wählte das amerikanische Volk einen Mann, der trotz glänzender Abschlüsse der Columbia- und Harvard-Universitäten eine Karriere als Wirtschaftsjurist ausschlug, um Sozialarbeiter und Anwalt in den Armenvierteln Chicagos zu werden. Barack Obamas Aufstieg zum mächtigsten Menschen der Welt ließ schlagartig alle verstummen, die der Ansicht waren,  ein Altruist könne weder sonderlich intelligent sein noch Erfolg haben. Wer heute über „Gutmenschen“ spottet, macht vor allem sich selbst lächerlich.
Kann das so unerwartet erwachte Interesse an der Gemeinschaft dauerhaft sein? Die Befürchtung, dass Solidarität in der Krise schwinden würde,  bewahrheitete sich nicht; vielmehr nährte der  Beinahezusammenbruch der Finanzwelt die Zweifel daran, ob ein allein auf Eigennutz gegründetes Wirtschaftssystem funktionieren kann.  Skeptiker allerdings mögen in den jüngsten Bundestagswahlen den Beginn einer Gegenbewegung sehen: Zogen in den letzten drei Wahlperioden Parolen erst von gesellschaftlichem Aufbruch, dann von Sicherheit und Gerechtigkeit, machten diesmal  Parteien das Rennen, die ihren Wählern mit betäubender Monotonie mehr Netto auf dem Konto versprachen.
Während die Gesellschaft ihren Glauben an das Prinzip Eigennutz bislang allenfalls zaghaft hinterfragt, ist in der Wissenschaft bereits ein Umschwung im Gang. Mehr und mehr Verhaltensforscher verabschieden sich von dem Dogma des stets egoistischen Menschen. Nicht allein die Tatsache, dass die alte Hypothese zu offensichtlich wirklichkeitsfremd war, hat sie zum Umdenken gezwungen. Hinzu kamen Möglichkeiten der Hirnforschung, der Evolutionsbiologie und der experimentellen Ökonomie, das menschliche Zusammenleben zu erforschen.  So reift in der Zusammenarbeit der Disziplinen ein neues Menschenbild, das den  Homo sapiens freundlicher erscheinen lässt als bisher. Auf lange Sicht werden diese Einsichten die Spielregeln in unserer Gesellschaft verändern.
Wie einflussreich die herrschende Vorstellung vom Wesen des Menschen sein kann, zeigte die jüngste Finanzkrise. Nicht die einzige, doch eine wesentliche Ursache des Debakels war die Überzeugung, dass allein sein Egoismus den Menschen antreibe. Üppige Boni verführten bekanntlich die Finanzakrobaten dazu, mit fremdem Geld aberwitzige Risiken einzugehen. Aber was brachte eigentlich die Banken und andere Unternehmen auf die ebenso teure wie gefährliche Idee, ihre Manager mit Millionenboni zu locken? Noch vor 25 Jahren war es undenkbar, dass leitende Angestellte einmal so viel verdienen könnten wie Weltklassefußballer oder Rockstars.
Die Gehaltsschraube begann sich erst in den 1980er Jahren zu drehen. Damals suchten amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, mit der Bürokratenmentalität vieler Manager unzufrieden, nach neuen Mitteln der Motivation. In einer Reihe viel beachteter Aufsätze beschrieb der Harvard-Professor Michael Jensen den vermeintlichen Königsweg: Die Interessen der Führungskräfte seien mit denen der Eigentümer in Einklang zu bringen. Denn beide hätten dasselbe Motiv – möglichst viel Geld zu verdienen. Wenn also ein Chef den Firmengewinn steigere, solle er kräftig daran teilhaben. ivAusdrücklich begründete Jensen diese Empfehlung mit seinem Bild des Homo sapiens. Eine seiner Arbeiten trägt den Titel „Die Natur des Menschen“. Diese sei so beschaffen, dass jeder stets nach dem größtmöglichen Vorteil strebe.
Jespen stieß auf so begeisterte Zustimmung, als hätten Teile der Wirtschaftselite nur auf einen solchen Propheten gewartet. Zwar erinnerte der Forscher immer wieder daran, dass sich der Gewinn nicht unbedingt auf dem Konto auszahlen müsse: Macht, Anerkennung, Liebe und selbst das Gefühl, etwas für andere geleistet zu haben, könnten nicht minder beflügeln. Aber dieser Teil seiner Botschaft ging unter, denn Regungen wie die Sehnsucht nach Zuspruch galten zu jener Zeit kaum als Gegenstand ernsthafter Forschung. Und an altruistische Motive mochte ohnehin niemand glauben. So nistete sich in den Lehrbüchern, in Managerköpfen und schließlich in den Zirkeln der Macht die Überzeugung ein, der Mensch sei nur für eines bereit, alles zu tun  –  für Geld.v
„Gier ist gut, Gier ist richtig“, verkündete Michael Douglas alias Gordon Gekko, Held des legendären Films „Wall Street“ aus dem Jahr 1987. Zur  Begründung bemühte der Spekulant die Biologie: „Gier ist der Kerngedanke der Evolution.“ Damit formulierte Gekko das Credo der folgenden zwei Jahrzehnte, in denen selbst Kleinanleger zu zocken begannen und die Jagd nach Schnäppchen zum Volkssport wurde.
Doch wie jedes Suchtmittel, so hat auch Geld gefährliche Nebenwirkungen: Es fördert den Egoismus. Auf welch subtilen Wegen Euros und Dollar die Psyche verändern, zeigte vor kurzem die US-Psychologin Kathleen Vohs. Sie manipulierte das Unbewusste ihrer Versuchspersonen mit Worträtseln, in denen immer wieder Begriffe wie „Gehalt“ oder „Vermögen“ vorkamen. Dann bat sie die Probanden um eine kleine Hilfeleistung, etwa ein paar heruntergefallene Stifte aufzuheben. Das Ergebnis der Studie kann erschrecken: Die Versuchspersonen, die man mit Floskeln aus der Finanzwelt konfrontiert  hatte, waren wesentlich weniger hilfsbereit als jene, die ein Rätsel mit neutralen Begriffen gelöst hatten. Auch waren die ersten weniger willens, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder für eine gute Sache zu spenden. Vohs vermutet, der bloße Gedanke an Geld rufe  eine Illusion  persönlicher Unabhängigkeit wach: Mit einem vollen Portemonnaie meinen wir eher, andere nicht zu brauchen, und erwarten umkehrt auch von ihnen, ihre Probleme selbst   zu lösen.
In einer zweiten Serie von Experimenten saßen die Versuchspersonen einem Poster mit Scheinen verschiedener Währungen gegenüber, betrachteten dieses Motiv als Bildschirmschoner oder sahen nur etwas Monopolygeld in der Ecke herumliegen. Und wieder waren die Probanden weniger zur Zusammenarbeit mit anderen bereit. Zudem äußerten sie weniger Lust, ihre Freizeit mit anderen zu verbringen, und rückten sogar körperlich weiter von ihren Gesprächspartnern ab. Geld mache keineswegs böse, wohl aber unsozial, schreibt Vohs. Offenbar ist die egoistische Natur des Menschen auch eine sich selbst bestätigende Prophezeiung: Behandelt man Personen, als seien sie eigennützig, werden sie es.

Damit leisteten die Theorien über die grenzenlose Gier der Menschen genau dieser Gier Vorschub. Fraglos sind Geld und Machthunger starke Antriebe. Aber Menschen haben eben auch andere Motive: Mitgefühl etwa, oder die Sehnsucht nach Lob und Zuwendung, nach Gemeinschaft und Sinn.
Warum haben Wissenschaft und Wirtschaft solche Beweggründe so lange ignoriert? Das Prinzip Eigennutz besaß auch deswegen so viel Anziehungskraft, weil es leicht zu verstehen ist, während die Ursachen für selbstloses Handeln lange im Dunklen lagen.   
Bereits Charles Darwin merkte an, dass Altruisten in der Evolution einen schweren Stand hätten: Wer  die Anlage zum Einsatz für andere, nicht eng mit ihm verwandte Individuen in sich trage, müsse im Überlebenskampf gegen ruchloseren Artgenossen verlieren  – die Altruisten sterben aus. Unter dem Markenzeichen „evolutionäre Psychologie“ findet sich diese Hypothese heute sogar in populären Lebensratgebern. Darwin selbst  allerdings zweifelte an der Richtigkeit seiner Gedanken, hatte er doch auf seiner Weltreise bei allen Völkern Mitgefühl und Moralempfinden beobachtet. Doch weder er noch seine Nachfolger waren imstande, das Rätsel zu lösen.
Stattdessen setzte sich in der Wissenschaft die Überzeugung durch, dass Großmut und Fairness zwar existieren mochten – aber nur als raffinierte Tarnung, um die eigenen Interessen umso gerissener zu verfolgen. „Kratz' einen Altruisten und sieh einen Heuchler bluten“vi, so formulierte es der kalifornische Zoologe Michael Ghiselin 1974. Zwar könne sich der Mensch in beschränktem Maß gegen die Herrschaft seiner egoistischen Gene auflehnen, doch handle er dann gegen seine Natur.

Neue Ergebnisse der Hirnforschung allerdings lassen eine solch pessimistische Sicht wenig   plausibel erscheinen. Wäre nämlich selbstloses Verhalten einzig Folge unserer Erziehung, und stünde der Sinn für Fairness und Anstand im Widerspruch zu unseren Instinkten, dann müssten allein die evolutionär jüngsten Teile des Gehirns für unsere freundlichen Seiten  verantwortlich sein – jene Schaltungen der Großhirnrinde, denen der Mensch seine überragenden Fähigkeiten zur Selbstkontrolle verdankt. Doch dies ist nicht der Fall: Wenn wir moralische Entscheidungen treffen, treten Regionen des Gehirns Aktion, die wir von fernen Vorfahren aus dem Tierreich geerbt haben. Das sogenannte Reptilienhirn steuert unter anderem Triebleben und Emotionen.vii Also trägt das Gerechtigkeitsempfinden seinen Namen zu Recht: Es beruht nicht auf ausgefeilten Überlegungen, sondern auf Emotionen, wie man sie schon bei Tieren finden kann.viii
 Zoologen haben denn auch in den letzten Jahren zahlreiche Belege dafür gesammelt, dass sich Tiere keineswegs immer nach der Maxime des größten eigenen Vorteils verhalten. Berühmt wurde die Gorilladame Binti, die 1996 im Zoo von Chicago ein Kleinkind rettete, das in ihr Gehege gefallen war, und den blutüberströmten Jungen einem Tierpfleger überreichte. Gut dokumentiert ist die Angewohnheit der Weißbüschelaffen, ihr Futter mit fremden Kindern zu teilen.ix  Diese südamerikanischen Primaten sind auch zu uneigennützigem Verhalten unter Erwachsenen fähig: In Experimenten arbeiteten sie, um einem  Artgenossen einen Leckerbissen zu verschaffen – auch dann, wenn für sie selbst nichts dabei heraussprang.x Schimpansen wiederum adoptieren fremden Nachwuchs und schlichten Streit in der Gruppe. xi Selbst Hunde haben einen primitiven Gerechtigkeitssinn, und Koyoten achten darauf, dass ein schwächerer Spielgefährte einen Startvorteil erhält..xii

Widerspricht die Sorge um das Wohl anderer nicht der Darwin'schen Lehre, dem Daseinskampf in der Evolution? Nicht unbedingt. Computersimulationen weisen nach, dass sich unter bestimmten Voraussetzungen auch Individuen im Wettbewerb durchsetzen können, die ihr Eigeninteresse mitunter zurückstellen. Denn solche Geschöpfe sind ihren rein egoistischen Konkurrenten in einer überaus wertvollen Eigenschaft voraus: Sie können zusammenarbeiten. Wenn Tiere beispielsweise gemeinsam für ihren Nachwuchs sorgen, können die Mütter einzeln auf Futtersuche gehen. Das verbessert den Ernährungszustand aller  und ermöglicht es den Weibchen, bald wieder zu gebären. Auch sind die Familien in der Lage, untereinander Nahrungsmangel und -überschuss auszugleichen, wodurch sich die Überlebenschance aller Kinder verbessert. So übersetzt sich gemeinsame Brutpflege in evolutionären Erfolg.xiii
 Die Zusammenarbeit funktioniert allerdings nur, wenn die Tiere spezielle Fähigkeiten entwickeln: Beide Partner müssen imstande sein, die Welt  mit den Augen ihres Gegenübers zu sehen. Auch müssen die Kooperationswilligen Schmarotzer entlarven, sonst beuten diese die Gutwilligen aus. Wer von anderen profitieren will, braucht also Talente wie Empathie und Gerechtigkeitssinn – Wesenszüge, die ein Individuum nicht nach einfach nach Bedarf an- und abschalten kann.
Eigenschaften wie Freundlichkeit, Sanftmut und Hilfsbereitschaft entstanden demnach, weil sie ihren Trägern im Konkurrenzkampf der Evolution einen Vorteil verschafften. Dennoch muss sich  keineswegs  jeder einzelne hingebungsvolle Akt lohnen, wie die oft etwas krude „evolutionäre Psychologie“ es behauptet. Menschen springen nicht ins Wasser, um einen Ertrinkenden zu retten, weil sie irgendwann eine Gegenleistung erwarten. Der evolutionäre Vorteil liegt vielmehr darin, dass ein mit uneigennützigen Regungen begabtes Geschöpf sich unter dem Strich meist erfolgreicher fortpflanzen wird als ein Schlawiner. Insofern ähnelt Altruismus dem Sex: Der stärkste aller Triebe bewegt uns zur Vermehrung, aber längst nicht bei jedem Beischlaf zeugen wir Kinder.
 
Tatsächlich zeigen sich Menschen auch im Experiment überraschend freigiebig, wenn sie keinerlei Belohnung, nicht einmal ein freundliches Lächeln als Anerkennung erwarten können. Um den Willen zur Selbstlosigkeit zu messen, erfand der deutsche Ökonom Werner Guth das so genannte „Ultimatumspiel“: Einem Freiwilligen wird eine beträchtliche Summe als Geschenk angeboten. Behalten darf der glückliche Empfänger das Geld aber nur, wenn er einen Teil davon an einen unbekannten Mitspieler abgibt und dieser die Gabe akzeptiert. Wie viel er herausrückt, darf der erste Spieler selbst bestimmen.
 Handelte es sich bei den Spielern um  perfekte Egoisten, würde der Erste so wenig anbieten wie möglich. Schließlich hat er von seinem Mitspieler nichts zu befürchten, denn die Wissenschaftler sorgen dafür, dass sich die Partner nie begegnen und noch nicht einmal wechselseitig ihre Namen erfahren. Und der Zweite sollte in jede Offerte einwilligen – besser ein bisschen Geld als gar keines.
Aber fast niemand entscheidet sich so. Der Widerwille gegen schäbige Angebote ist dermaßen stark, dass die meisten zweiten Spieler empört ablehnen, sollen sie weniger als ein Viertel der Summe erhalten. Und ihr Gegenüber scheint es zu wissen: Angebote, die  drastisch gegen das Gerechtigkeitsempfinden verstoßen, werden nur selten gemacht. In Gesellschaften wir der unseren teilen die meisten Spieler das Geld brüderlich, im Schnitt bekommt jeder die Hälfte.
Nur Altruismus kann erklären, warum die zweiten Spieler nicht auf jedes Angebot eingehen: Wichtiger als ihr persönlicher Gewinn ist ihnen offenbar, dass unter den Menschen halbwegs Gerechtigkeit herrscht – auch wenn sie selbst dafür Nachteile in Kauf nehmen. Der uneigennützige Wunsch nach Fairness ist so stark, dass man ein Menschengehirn massiv stören muss, um ihn vergessen zu machen. Genau das gelang einer Gruppe von Forschern um den Zürcher Ökonomen Ernst Fehr.xiv  Als sie die Köpfe ihrer Versuchspersonen mit starken Magnetfeldern bestrahlten und so die Funktion eines Zentrums im rechten Stirnhirn  blockierten, brach der Egoismus sich Bahn. Mit einem Mal nahmen die Probanden auch die kleinlichsten Offerten an. Ihr Gerechtigkeitsempfinden, das normalerweise die grenzenlose Gier unterdrückt, war abgeschaltet.
Leiden also besonders skrupellose Egoisten und notorische Glücksritter an einem Hirndefekt? Wohl nur in Extremfällen. Sicher ist hingegen, dass unsere Gene beeinflussen, wie egoistisch oder selbstlos wir handeln. Eineiige Zwillinge ähneln sich auffallend nicht nur im Ausmaß ihrer Freigiebigkeit, sondern auch darin, welche Angebote im Ultimatumspiel sie gerade noch als gerecht aussehen.xv
Auch das Verhalten von Kleinkindern spricht dafür, dass es tatsächlich so etwas geben könnte wie Gene für Altruismus. Eltern erleben ihre Jüngsten oft als Wesen mit zwei Naturen. Einerseits sind Kleinkinder Haudegen. Sie beißen, rauben, treten, und sei es nur, um anderen ein Spielzeug abzujagen. Die leidgeprüften Mütter und Väter wissen genau, wie schwer es fällt, einem Kind unter zwei Jahren soziales Verhalten beibringen zu wollen.
Umso erstaunlicher ist, wie mitfühlend und hilfsbereit sich diese kleinen Monster andererseits zeigen.  Ein 20 Monate altes Mädchen schleppt der Mutter, die krank im Bett liegt,  plötzlich seine liebsten Kuscheltiere herbei und legt sie ihr auf den Bauch. Auch sorgt sich das auf dem Spielplatz  gewaltbereite Kind rührend um ein schreiendes Baby. Und sogar wenn sie im Zoo einen jungen Affen vom Kletterbaum fallen sieht, schreit die Kleine entsetzt: „Aua!“
Solchen Altruismus der Kleinsten untersuchten Felix Warneken und Michael Tomasello am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Beispielsweise ließen sie 18 Monate alte Jungen und Mädchen beobachten, wie sich ein Erwachsener mit vollen Händen damit mühte, eine angelehnte Schranktüre zu öffnen. Fast immer ließen die Kinder ihr Spielzeug im Stich und stießen die Tür auf. Und offenbar taten sie es nicht aus Freude daran, Schränke zu öffnen. Denn wenn sie sahen, dass der Erwachsene die Sache auch selbst machen konnte, blieben sie bei ihrem Spiel. Auch schien der Wunsch nach Belohnung nicht wichtig. Im Gegenteil:  Als die Forscher dazu übergingen, die Hilfeleistung einiger ihrer kleinen Versuchspersonen mit einem aufregenden Spielzeug zu bezahlen, waren diese Kinder bald weniger zuvorkommend als andere, die nie etwas bekommen hatten.xvi Und schließlich zeigten sich Kleinkinder in allen Kulturen auf die gleiche Weise, so, wie sie auch überall zu gehen und zu sprechen lernen. All dies spricht für Tomasello dafür, dass die Neigung zur Hilfeleistung uns angeboren, nicht anerzogen ist.
Die Bereitschaft zu teilen und der Gerechtigkeitssinn entwickeln sich später – mit etwa fünf Jahren. In seinen Experimenten dazu verteilte der Zürcher Ökonom Fehr verteilte an Kinder verschiedenen Alters Gummibärchen und Smarties; diese konnten sie, wenn sie wollten, mit anderen Kindern teilen. Dabei waren die Empfänger weder im Raum, noch konnten diese sich später bei den Spendern revanchieren. Unter solchen Bedingungen waren Dreijährige kaum bereit, Süßigkeiten herauszurücken. Von den Sechsjährigen dagegen gaben immerhin schon ein Viertel etwas ab. Und von den Achtjährigen teilten 45 Prozent ihre Schätze. Eine ähnliche  Quote stellt man denn auch unter Erwachsenen fest.xvii

Allerdings hängt die Bereitschaft zu Teilen viel stärker von den Umständen und den Gepflogenheiten einer Kultur ab als der spontane Entschluss, anderen zu helfen. In Handelsraum einer Börse würde wohl selbst ein Mahatma Gandhi keine anderen als die eigenen Interessen verfolgen. So lautet die entscheidende Frage: In welchem Umfeld gedeiht die Gier, in welchem der Gerechtigkeitssinn?  
Die Antwort suchte der US- Anthropologe Joseph Henrich in den entlegensten Winkeln  der Welt. Für die größte Vergleichsstudie über den Egoismus der Völker erhoben seine Mitarbeiter Daten bei Studenten in Los Angeles, Tokgeio, Jerusalem und auf der indonesischen Insel Java. Sie reisten zu ostafrikanischen Bauern und  mongolischen Hirten, besuchten die Ureinwohner in den chilenischen Anden und am peruanischen Amazonas. Nur aus einem Dorf im Urwald Papua-Neuguineas mussten die Forscher unverrichteter Dinge abziehen, nachdem eine Frau das Experiment zu einem „Werk des Satans“ erklärt und die Eindringlinge mit einem gezückten Messer bedroht hatte.
  Überall ließen die Wissenschaftler ihre Probanden an einem Ultimatumspiel teilhaben, bei dem stets eine Summe von zwei Tageslöhnen zu verteilen stand. Und überall zeigten sich die Menschen bemerkenswert freigiebig. In allen Industrieländern, auch in den Städten der Entwicklungsländer gab der eine dem anderen im Schnitt die Hälfte ab. Bei Stammesvölkern hingegen schwankte der Betrag, den beide Seiten als gerecht empfinden. Die großzügigsten Menschen der Erde sind dieser Studie zufolge die Lamalera, Walfänger in Indonesien, die ihren Mitspielern regelmäßig fast zwei Drittel des Geschenks anboten. Am wenigsten freigiebig zeigte sich ein Volk namens Machiguenga im Regenwald Perus. Sie streichen drei Viertel der Summe selbst ein, was ihre Mitspieler als völlig korrekt empfinden. Kein Volk jedoch benahm sich auch nur annähernd so, wie die traditionelle Wirtschaftswissenschaft es vorhergesagt hätte. Selbst die Machiguenga sind noch immer weit davon entfernt, reine Egoisten zu sein.  So tief ist  der soziale Instinkt in allen Menschen verwurzelt.
Doch was lässt nun die Lamalera so extrem großzügig handeln, und warum sind ausgerechnet die Machiguenga so knickrig? Um  die Unterschiede zwischen den Völkern zu erklären, prüften Henrich und seine Kollegen alle möglichen Hypothesen von der Einwohnerzahl der Ansiedlungen über die Gesellschaftsform bis hin zur Fähigkeit der Menschen, ein Geheimnis für sich zu bewahrten. Nichts davon taugte als Erklärung. Fündig wurden die Forscher erst, als sie untersuchten, in welchem Maß die Menschen in den einzelnen Kulturen miteinander handeln und mit anderen außerhalb des eigenen Clans zusammenarbeiten.
Die Machiguenga sind  Individualisten. Jede Familie lebt für sich und weiß kaum etwas von den Freuden und Sorgen der anderen. Zu den raren Gelegenheiten, bei denen sich die Mitglieder verschiedener Clans treffen, gehört das Fischen. Gemeinsam versperren die Indianer Flüsse mit einem Damm und vergiften das Wasser; sobald aber die toten Fische an der Oberfläche treiben, rennt jeder los und versucht, soviel Beute wie möglich für sich zu ergattern. Keiner stört sich an dem wenig sozialen Verhalten.
Die Lamalera hingegen würden verhungern, zeigten sie sich ähnlich eigennützig. Der steile Vulkanfels unter ihren Dörfern bietet kaum Ackerland, und zum Walfang müssen von Anfang bis Ende alle zusammenhalten. Ihre mit Rudern und Palmsegeln angetriebenen Boote fahren in der Flotte aus. Jedes einzelne ist mit mindestens neun Mann besetzt. Nicht immer kann der Kapitän Rücksicht darauf nehmen, dass alle demselben Clan angehören, denn er braucht erfahrene Seeleute. Nur wenn Steuermann, Harpuniere und Matrosen präzise zusammenarbeiten, können sie den Wal stellen. Oft genug kentert bei der Jagd eines der Boote. Dann kommen die anderen zur Hilfe. Ist die Beute gefangen, wird das Fleisch nicht nur unter allen Besatzungsmitgliedern aufgeteilt, sondern auch die Bootsbauer und Segelmacher an Land  bekommen ihre Ration nach einem genau ausgeklügelten Schlüssel ab. Wer die Regeln verletzt, wird von der Jagd ausgeschlossen und muss während des Banns hungern.
Offensichtlich ist es die unterschiedliche Lebensweise, die Menschen in Stammesgesellschaften hier großzügig, dort engherzig macht. Die Lamalera sind freigiebig geworden, weil sie von Kindestagen an lernten, wie sehr sie einander brauchen. Die Machiguenga hingegen machen diese Erfahrung in weit geringerem Maß, denn im Urwald Perus muss jede Familie sich selbst ernähren. Generell stellte sich beim Vergleich auch der anderen Völker heraus, dass Menschen umso bereitwilliger teilen, je mehr sie auf Personen jenseits der Familie angewiesen sind – entweder, weil sie mit ihnen Geschäfte machen, oder weil ihr Lebensunterhalt von der Kooperation in der Gruppe abhängt. Notwendigkeit macht Menschen altruistisch.
Und umgekehrt war altruistisches Verhalten nie so notwendig wie heute. Nie zuvor haben Menschen so viel und über Kontinente hinweg gehandelt, haben sie soviel Austausch gepflegt und gemeinsam versucht, weltumspannende Probleme zu lösen wie in unserer globalisierten und vernetzten Welt. Nie zuvor war jeder Einzelne so sehr von anderen, oft weit entfernten Menschen abhängig. Umso wichtiger erscheint es, die Anlagen zu Großzügigkeit und Kooperationsbereitschaft zu fördern, statt egoistisches Verhalten zu begünstigen.  Menschen setzen sich am bereitwilligsten für das Gemeinwohl ein, wenn sie wissen, wie sehr sie einander aufeinander angewiesen sind: Daher könnten Unternehmen in ihrem eigenen langfristigen Interesse gut beraten sein, statt in üppige Boni eher in ein gedeihliches Betriebsklima zu investieren. Und in der Politik mag es sich auszahlen, nicht nur  auf Selbstverantwortung zu setzen, sondern auch die Solidarität in der Gesellschaft zu stärken, so wie es US-Präsident Obama mit seiner Gesundheitsreform derzeit versucht.
Bloße Appelle an Moral und Gewissen dürften hingegen wenig fruchten. Schließlich belegen die neuen neurobiologischen Erkenntnisse, dass selbstloses Verhalten und Gerechtigkeitssinn nicht so sehr bewusster Überlegung entspringen, sondern stark emotional gesteuert sind.
Auch Wesley Autreys Heldentat in der New Yorker U-Bahn legte ein eindrucksvolles Zeugnis ab von den Kräften jenseits der Vernunft, die Menschen füreinander einstehen lassen. Hätte sich Autrey bewusst entschieden, den Gestürzten vom Gleis zu retten, wäre er sicher nicht rechtzeitig vor dem Zug zur Stelle gewesen. Während nämlich die evolutionär alten Schaltungen in unserem Gehirn rasch Emotionen und Handlungen auslösen, arbeitet das Denken viel langsamer. So, wie ein bedrohtes Tier instinktiv flieht, ließ vermutlich ein automatisches Programm Autrey zur Hilfe eilen.
Letztlich rühren Ereignisse wie das U-Bahn-Drama noch an weit tiefgründigere  Fragen nach der Natur des Menschen – und seiner Identität. Denn sie deuten darauf hin, dass die Grenzen unseres Ichs viel weniger fest gefügt sind, als wir glauben. Davon ist jedenfalls Donald Pfaff überzeugt, der an der New Yorker Rockefeller Universität die hirnphysiologischen Grundlagen des Altruismus erforscht. In bedrohlichen Situationen, aber auch in  Momenten freudiger Erregung könne, so Pfaff, die sonst so deutlich erlebte Trennung zwischen „ich“ und „den anderen“ verschwimmen.xviii Bisweilen würde sich diese Grenze sogar auflösen. So betrachtet hätte Autrey den Zug, der auf den Gestürzten zuraste, unwillentlich als Bedrohung für sich selbst wahrgenommen –  und einfach so gehandelt, als müsse er seine eigene Haut retten.
Altruismus und Egoismus galten seit jeher als unvereinbare Gegenpole des menschlichen Handelns. Im Licht der neuen Erkenntnisse aber stellt sich heraus, wie sehr beide einander bedingen und brauchen. Wenn Altruisten die eigenen Interessen vergessen, gehen sie unter; reine Egoisten allerdings sind in der Regel auch nicht lange erfolgreich. Darum würde man den menschlichen  Empfindungen und fast all unseren Handlungen  nicht gerecht, erklärte man sie allein durch Eigennutz oder aber ausschließlich durch die  Sorge um andere. Oft ist nicht einmal klar auszumachen, wo die eigenen Belange aufhören und fremde beginnen – Menschen sind  Symbionten. „Mitgefühl ist weder altruistisch noch eigennützig“, so hat es der amerikanische Neuroökonom Paul Zak formuliert. „In Wirklichkeit zeigt diese Regung, wie sehr wir gelegentlich die Bedeutung des Individuums überschätzen.“