Romantische Illusionen vom Unglück
Unzufriedenheit und Schwermut gelten in Deutschland traditionell als Quell schöpferischer Schaffenskraft und genialischer Ideen – Was für ein Unsinn.
Wie geht es Ihnen? Eigentlich gut, aber... Überlegen Sie einen Augenblick: Bestimmt fällt Ihnen eine Sorge ein. Vielleicht plagt Sie auch der Stress. Irgendein Ungemach trübt auf jeden Fall Ihre Stimmung. Schließlich wollen Sie nicht als ein oberflächlicher Faulpelz dastehen, der einfach so sein Leben genießt.
Das nämlich kommt in Deutschland schlecht an.Nehmen wir nur die Untertöne einer beliebigen Diskussion um die Euro-Hilfen: Der Aufreger sind ja keineswegs die Transfers selbst, schließlich überweist Deutschland seit Jahrzehnten Milliarden nach Süden. Aber den Griechen, die ja laut Kanzlerin Merkel „ganz viel Urlaub“ machen, sollen wir unser sauer verdientes Geld überweisen? Diesen Leichtfüßen, die wie einst Alexis Sorbas Sirtaki tanzend und Retsina trinkend in den Tag hinein leben? Kein Wunder, dass die nichts auf die Reihe bekommen. Vermutlich hätten Finanzhilfen für schwermütige Finnen die Stammtische viel weniger erregt.
Allerdings hat die Empörung einen blinden Fleck: Die Deutschen sind schon seit Jahren glücklicher als die Menschen in sämtlichen Mittelmeerländern, wie europaweite, anonym durchgeführte Umfragen beweisen. Und seit 2008 steigt die Lebenszufriedenheit der Deutschen sogar an. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie benoten durchschnittliche Deutsche ihr Wohlbefinden inzwischen mit immerhin sieben von zehn möglichen Punkten.
Eine gute Nachricht, möchte man meinen, doch Kulturkritiker beobachten die Entwicklung mit Sorge: Große Buchverlage versuchen einander in diesem Herbst mit Streitschriften für ein Recht auf Unglück zu überbieten, und die Feuilletons verkünden, dass Glück überschätzt sei. Dass immer mehr Menschen – Deutsche ! – die Fröhlichkeit dem Schwelgen in Melancholie vorziehen, ist in ihren Augen mehr als nur ein Zeichen des Niedergangs, sondern bedrohlich. Wer nur dem eigenen kleinen Glück nachhänge, so argumentieren die Warner, sei ein Egoist, der nichts zum Wohle der Gemeinschaft beitrage.
Das Misstrauen gegenüber den guten Gefühlen hat in Deutschland Tradition: Unsere Kultur hält negative Gefühle für wertvoller als positive. Dies ist nicht zuletzt ein Erbe der Romantik, feierte das 19. Jahrhundert doch die gequälte Seele als Quelle aller Schaffenskraft und die unerfüllte als die einzig wirkliche Liebe. Auch wenn kaum jemand noch Goethes Werther und niemand mehr Novalis' Heinrich von Ofterdingen liest, die Romane, die diese Vorstellungen in die Welt gesetzt haben, nehmen wir sie doch ungefragt hin: Glücksgefühle mögen angenehm sein, aber sie bringen uns selbst und vor allem andere nicht weiter.
So prangerte beispielsweise der Philosoph Wilhelm Schmid kürzlich in der SZ eine neue Norm der „kritiklosen Anbetung von Glück und Lust“ an, die sich zu unserem Schaden in unserer Gesellschaft breitmache: „Hätten in der Geschichte nur Glück und Zufriedenheit geherrscht, säßen wir wahrscheinlich immer noch auf den Bäumen.“
Leiden Menschen also zum Wohle der Menschheit? Haben wir am Ende gar eine Pflicht zum Unglücklichsein? Ein Blick in aktuelle Krankheitsstatistiken lässt solche Gedankengänge zynisch erscheinen. Während es nämlich einerseits um das seelische Wohlbefinden der Mehrheit gut bestellt ist, steigt andererseits die Zahl der Depressiven rasant.
Jeder zehnte Einwohner Deutschlands erlag im Verlauf des vergangenen Jahres einer mehrwöchigen Depression. Junge Menschen leben heute mit einem dreimal höheren Risiko, eine schwere Depression zu erleiden, als noch vor zehn Jahren. Und nach Daten der Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen international in 20 Jahren bei Frauen mehr Schäden verursachen als jede andere körperliche oder seelische Krankheit, bei Männern werden einzig Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch mehr Leid anrichten.
Die krankhafte Niedergeschlagenheit droht zu einer Pest des 21. Jahrhunderts zu werden; ihre Ausbreitung mit einem Seuchenzug zu vergleichen, trifft in einem erschreckend buchstäblichen Sinn zu. Denn wie neue sozialmedizinische Untersuchungen zeigen, stecken Menschen einander mit ihrer Niedergeschlagenheit an. Und anders als die Prediger der Melancholie glauben machen, ist der Übergang vom alltäglichen Unglück zur schweren Depression ein fließender: Wer allzu oft trüben Gedanken nachhängt, tut weder seiner eigenen seelischen Gesundheit noch der seiner Mitmenschen etwas Gutes.
Aber fördern die Schwermütigen wenigstens den kulturellen Fortschritt der Menschheit, wie es die Apologeten des Unglücks verheißen? In diesem Fall müssten diese darlegen, dass es der Welt tatsächlich nützt, wenn wir Trübsal blasen: „Wer außergewöhnliche Behauptungen aufstellt, hat außergewöhnliche Beweise zu liefern“, forderte einst Carl Sagan, der legendäre amerikanische Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist.
Zumindest aber sollten die Fürsprecher der Melancholie nachweisen, dass unglückliche Menschen ungewöhnlich kreativ und sozial eingestellt sind. Nur berühmte Beispiele anzuführen, hilft da nicht weiter. Denn für jeden van Gogh, der sich ein Ohr abschnitt, gab es einen Picasso, der die Freuden des Lebens genoss. Und für jeden Che Guevara, der am Elend der Armen verzweifelte, lebte ein Albert Schweitzer, der sich an seiner Orgel im Dschungelkrankenhaus vergnügte, aber gewiss nicht weniger für die Leidenden tat.
Tatsächlich suchte die psychologische Forschung ein Vierteljahrhundert lang nach Hinweisen darauf, dass unglückliche Menschen bessere Menschen sein könnten. Bahnbrechende Forschung dazu leistete die kürzlich verstorbene Alice Isen an der amerikanischen Cornell University. In einem ihrer klassischen Experimente gab sie den Versuchspersonen je eine Schachtel Reißnägel, Streichhölzer und eine Kerze. Mit diesen Zutaten sollten sie die Kerze so an der Wand befestigen, dass kein Wachs heruntertropft, wenn die Flamme brennt.
Bevor Isen diese Aufgabe stellte, zeigte sie den Probanden Filme. Eine Gruppe bekam fünf Minuten aus einem Programm für den Mathematikunterricht zu sehen, die andere durften über Comedy-Sketche lachen. Die Probanden, die sich mit dem Schulfilm gelangweilt hatten, standen meist ratlos vor dem Problem. Von denjenigen hingegen, die sich amüsiert hatten, fanden drei Viertel die richtige Lösung: Sie entleerten das Schächtelchen, pinnten es mit ein paar Reißzwecken an die Wand und stellten die Kerze darauf.
Seit diesem Experiment haben mehr als sechzig weitere Untersuchungen alle romantische Ideen vom unglücklichen Genie Lügen gestraft. Zweifellos seien es eher die guten Gefühle, die Menschen einfallsreich machten, schreibt der niederländische Arbeitspsychologe Matthijs Baas in einem kürzlich erschienenen Übersichtsartikel: „Die Stimmung ist eine der am besten untersuchten und am wenigsten umstrittenen Einflüsse auf Kreativität.“
Hätte also ein weniger mürrischer Beethoven zwölf oder gar 18 Sinfonien komponiert? Nicht allein psychologische Studien, sondern erst recht die zugrunde liegende Neurobiologie lassen diese Spekulation als keineswegs abwegig erscheinen. Denn wie jedes Gefühl, so entstand auch Glück in der Evolution als ein Signal: Es gibt dem Organismus einen Hinweis darauf, dass eine Situation für ihn aussichtsreich ist. Mit positiven Emotionen verführt die Natur ihre Geschöpfe zu einem Verhalten, das die Chancen auf Überleben und Fortpflanzung steigert: Essen, Sex und – im Falle des Menschen – Geselligkeit. Dieselben Mechanismen, die Vorfreude aufkommen lassen, bewirken aber auch, dass sich das Gehirn die jeweiligen Umstände einprägt, wenn ein Bedürfnis erfüllt wird. Der Organismus soll bei der nächsten Gelegenheit wieder die Chance ergreifen.
Eine zentrale Rolle dabei spielt der körpereigene Botenstoff Dopamin. Als sogenannter Neuromodulator wirkt er als ein Umschalter im System Hirn. Wie die Pausenglocke einer Schule Hunderte Kinder schlagartig in einen anderen Zustand versetzt, so ändern Millionen graue Zellen ihre Arbeitsweise, sobald Dopamin freigesetzt wird. Wir erleben dies als einen Zustand freudiger Erregung; zugleich aber macht sich das Gedächtnis zum Lernen bereit. Dopamin fördert nämlich das Entstehen neuer Verbindungen zwischen den Neuronen. So sind Gefühle und Gedanken, gute Stimmung und geistige Leistung untrennbar miteinander verknüpft.
Dopamin wirkt überdies auf die Aufmerksamkeit. So sorgt es dafür, dass sich der geistige Horizont weitet. Unter seinem Einfluss denken Versuchspersonen in weiteren Bahnen, die Filter der Wahrnehmung werden schwächer. So verlieren Menschen in gehobener Stimmung den Tunnelblick, der sie im Zustand von Niedergeschlagenheit und Angst davon abhält, ungewöhnliche Lösungen zu finden. Allerdings haben sie auch größere Mühe, Störungen auszublenden. Das mag beim Abarbeiten einer Steuererklärung schaden; doch je mehr geistige Regsamkeit und assoziatives Denken gefragt ist, umso stärker überwiegen die Vorteile der guten Gefühle. Wie Isen ebenfalls nachweisen konnte, stellen fröhliche Ärzte schneller und mit höherer Treffsicherheit Diagnosen. Auch sind glückliche Menschen in Verhandlungen besser imstande, allen Beteiligten zu ihrem Recht zu verhelfen; generell engagieren sie sich stärker für die Belange anderer.
Anders als die Romantiker glaubten, spornt also nicht die Peitsche ihrer Unzufriedenheit, sondern das Zuckerbrot einer erwarteten Belohnung Menschen zu außergewöhnlichen Leistungen an. Gute Gefühle oder auch nur die Aussicht darauf aktivieren; Unzufriedenheit hingegen bewirkt eher Lähmung und Resignation.
Wenn Organisationen trotzdem noch immer mit negativen Emotionen zu motivieren versuchen – Schulen mit Angst vor Versetzung, Universitäten mit Angst um den Abschluss und Unternehmen mit Angst um den Arbeitsplatz – betreiben sie eine gigantische Verschwendung menschlichen Talents. Ebenso wenig bewegt Unglück Menschen zum Einsatz für die Kunst, die Wissenschaft oder die Gerechtigkeit.
Wie irrig die Verklärung der negativen Gefühle ist, ahnte schon Baruch Spinoza. Der große Philosoph der holländischen Aufklärung nannte die Freude einen „Übergang des Geistes in einen vollkommeneren Zustand“, die Melancholie einen „Übergang des Geistes in einen unvollkommeneren Zustand“. Die moderne Neurowissenschaft gibt ihm recht: Positive Emotionen, Gedanken und die Bereitschaft zum Handeln hängen untrennbar zusammen.
Die Frage der Romantiker, ob wir glücklich sein oder die Welt retten sollen, stellt sich folglich gar nicht. Denn es sind die guten Gefühle, die uns zum Griff nach den Sternen beflügeln. Glück ist zugleich ein Lebensziel und ein Weg zum besseren Leben.
in: Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2012