Jane Goodall im Gespräch mit Stefan Klein
Ich habe nie eine bescheidenere Berühmtheit als Jane Goodall kennengelernt.
Wir trafen uns ihn ihrem kleinen Zimmer in einem Münchner Hotel, die berühmte Verhaltensforscherin hatte eine anstrengende Vortragsreise durch Österreich hinter und die Schweizer Premiere eines Films über ihr Leben vor sich. Aber die 77jährige Goodall redete nicht nur mit höchster Präsenz und gelegentlich einer sehr britischen Selbstironie, sie hörte auch mit einer Aufmerksamkeit zu, wie ich sie selten erlebe.
Dabei soll nach einer amerikanischen Untersuchung nur ein Wissenschaftler mehr Menschen bekannt sein als sie – Albert Einstein persönlich. Goodall selbst würde wohl widersprechen, dass man seinen und ihren Namen in derselben Kategorie nennt, hat sie doch nie ein Studium durchlaufen. Eine Pioniertat ähnlich der Erschaffung der Relativitätstheorie war es gleichwohl, als sie nach Abschluss einer Sekretärinnenschule im Jahr 1960 im ostafrikanischen Gombe-Nationalpark das Leben der Schimpansen zu erforschen begann. Denn nie zuvor hatte ein Mensch längere Zeit auf den Spuren wilder Menschenaffen verbracht. Und was Goodall in den mehr als 50 Jahren seitdem entdeckte, eröffnete nicht nur ein neues Verständnis unserer nächsten Verwandten. Ihre Forschungen waren auch wegweisend für unseren Umgang mit Tieren ganz allgemein.
Als wir dann am zweiten Tag unseres Treffens spazierten wir durch die nahegelegenen Isaranlagen spazierten, brachte Goodall plötzlich so täuschend echt Schimpansenlaute hervor, dass Passanten sich umdrehten. Offenbar fürchteten sie, dass ein entlaufenes Tier sich im Park herumtreibt.
Frau Goodall, es heisst, Sie haben Schwierigkeiten damit, sich Gesichter zu merken.
Lange Zeit hielt ich es für geistige Trägheit, wenn ich Menschen nicht wiedererkannte. Dann aber erklärte mir Oliver Sacks, der berühmte Neurologe, dass ich an einer wohl angeborenen Störung leide, Prosopoagnosie. Kurioserweise betrifft sie nur die Erinnerung an Gesichtszüge.
Wir könnten morgen einander auf der Straße begegnen und keiner würde den anderen erkennen.
So schlimm es bei mir nicht. Ich scheitere an Durchschnittsgesichtern, an Ihres würde ich mich erinnern. Und Sie wüssten doch, wer ich bin?
Oder auch nicht. Ich habe dieselbe Störung wie Sie. Am schlimmsten war es, wenn ich meine eigenen kleinen Kinder in der Kitagruppe nur an ihrer Kleidung erkannte.
Proposagnosie kann wirklich demütigend sein. Wenigstens geht es uns besser als dem armen Oliver Sacks, der auch daran leidet. Dem fehlte jede Ahnung vom Gesicht seiner Sekretärin – obwohl sie zehn Jahre lang täglich in seinem Vorzimmer sah!
Haben Sie auch mit Schimpansengesichtern Probleme?
Dieselben. Ich behalf mir, indem ich mir bestimmte Merkmale ihrer Gesichter gezielt einzuprägen versuchte. Zudem orientierte ich mich ihrem Körperbau, ihrer Haltung, der Haarfarbe, der Stimme.
Wenn man Ihr Lebenswerk in einem Satz zusammenfassen wollte, könnte man sagen: Sie hat den Schimpansen Gesichter gegeben. Bis dahin galten Tiere als austauschbar. Sie haben gezeigt, dass jedes seine eigene Persönlichkeit hat – wie wir.
Und einen Verstand und Gefühle.
Eine lange Tradition unseres Denkens sieht das ganz anders. Descartes, der französische Philosoph etwa, erklärte, Tiere seien von ihren Instinkten gesteuerte Maschinen. Woher nahmen Sie schon als ganz junge Frau den Mut, zu widersprechen?
In zwei Dingen hatte ich riesiges Glück. Das eine war die Weisheit meiner Mutter. Sie brachte mir bei, unerschrocken zu sein, wenn andere meine Überzeugung nicht teilen. Das andere war mein Lehrer. Sie haben von ihm gelesen?
Louis Leakey, der berühmte Anthropologe. Er hat Sie 1960 in Begleitung Ihrer Mutter zu den Schimpansen in den ostafrikanischen Urwald geschickt. So hoffte er, etwas von der Herkunft des Menschen zu erfahren.
Nein! Mein Lehrer war Rusty, mein Spaniel. Er hat mich durch meine ganze Kindheit begleitet. Er war unheimlich intelligent – und ganz anders alle meine späteren Hunde. Dank Rusty kam ich gar nicht auf die Idee, am Verstand und an der Persönlichkeit der Tiere zu zweifeln.
Er hat sie gegen die herrschende Vorstellung immunisiert.
Ja. Als ich meine Forschung begann, hatte allerdings noch gar keine Ahnung davon, wie die Wissenschaftler über Tiere dachten. Ich war ja als Sekretärin nach Afrika gekommen.
Dann lernten Sie Louis Leakey kennen, und er bot Ihnen an, als Verhaltensforscherin in den Dschungel zu gehen. Dabei muss er doch genau gewusst haben, dass Sie nie eine Universität von innen gesehen haben.
Natürlich. Viel später gestand er mir, dass er mich genau darum ausgewählt hatte. Er wollte jemanden, der sich den Tieren ohne Vorurteile nähert. Er war sehr weise.
Sie waren eine der drei jungen Frauen, die Leakey zu den Menschaffen aussandte: Dian Fossey setzte er auf die Gorillas an, Birut? Galdikas auf die Orang-Utans. Warum eigentlich nur Frauen?
Weil er junge Frauen mochte. Und mitunter ging er zu weit. Für mich war das ein Problem, weil er ja der einzige Mensch war, der meinen Traum wahr machen konnte. Er hatte von einem reichen Amerikaner Geld für sechs Monate meiner Forschung besorgt. Aber es war nicht viel. Ich hatte ein miserables Fernglas, wir lebten in einem ausgedienten Armeezelt. Wenn man es lüften wollte, musste man die Seitenwände hochbinden; dann krochen die Spinnen, Skorpione und Schlangen hinein. Meine Mutter hat das alles nicht nur ertragen, sie hielt auch noch meine Moral hoch. Denn ich wusste: Wenn ich in einem halben Jahr keine Ergebnisse habe, ist mein Abenteuer für immer beendet. Und ich kam Schimpansen einfach nicht näher, obwohl wir Bananen für sie ausgelegt hatten. Es war zum Verzweifeln.
Was änderte die Situation?
Die Begegnung mit David Graybeard. Ich hatte ihn schon öfter beobachtet, an seinem grauen Backenbart konnte ich diesen Schimpansen wiedererkennen. Eines Tages nahm er die Bananen. Bald duldete er meine Nähe und machte mich mit seinen Freunden im Dschungel bekannt. So konnte ich beobachten, wie er mit einem Grashalm nach Termiten stocherte. Niemand hätte bis dahin für möglich gehalten, dass frei lebende Affen Werkzeuge benutzen.
„Wir müssen nun entweder neu definieren, was der Mensch ist, oder Schimpansen als Menschen anerkennen“, schrieb Louis Leakey damals.
Ja, denn der Werkzeuggebrauch galt geradezu als das, was uns von allen anderen Tieren unterscheidet.
Waren Sie stolz auf Ihre Entdeckung?
Für mich zählte viel mehr, dass ich nun eine Rechtfertigung hatte, im Urwald zu bleiben. Bald darauf entdeckte ich, dass Schimpansen Werkzeuge herstellen, indem sie Blätter von Zweigen streifen. Und dass sie kleinere Affen jagen und essen. Schließlich hatte David Graybeard so viel Vertrauen zu mir, dass er meine Hand fasste.
Hatten Sie keine Angst, dieses riesige wilde Tier zu berühren?
David hatte Angst. Und ich sah ihn nicht als wildes Tier, sondern als ein Individuum, dessen Vertrauen ich gewonnen hatte. Als ich dann nach Cambridge ging, um auf Leakeys Veranlassung eine Doktorarbeit zu schreiben, hörte ich, dass ich alles falsch gemacht hatte. Ich hätte den Schimpansen noch nicht einmal Namen geben dürfen. Damals gehörte es sich, dass Verhaltensforscher die Tiere durchnummerieren. Und ich erzählte ihnen, wie David Graybeard und seine Freunde mit einer Decke, die sie uns geklaut hatten, blinde Kuh spielten!
Ihre Professoren suchten nach dem typischen Affen. Sie hingegen interessierten sich für jedes einzelne Tier – seine Geschichte, seine Besonderheiten.
Ja, ich sehe die Art als eine Versammlung von Individuen. Viele Kollegen schimpfen, ich würde nur Anekdoten erzählen. Aber wie sonst wollen Sie Wesen gerecht werden, von denen jedes anders ist? Aus Anekdoten erfahren Sie, wie die Tiere auf eine neue Situation reagieren, wozu sie fähig sind. Ob sich einzelnen Beobachtungen zu einem Gesamtbild fügen, kann man ja hinterher immer noch sehen. Darum liebe ich Geschichten.
Als Physiker freut mich allerdings auch die Schönheit allgemeiner Gesetze. Aber wie wollen Sie die finden, wenn Sie nicht danach suchen? Die Umstände jeder Anekdote sind anders.
Verhaltensforschung wird nie eine harte Wissenschaft sein. Andererseits: Wenn Sie eigentümliches Verhalten von vornherein ausblenden, unterschätzen Sie die Tiere. So dachten Wissenschaftler, es sei völlig unmöglich, dass Vögel Werkzeuge herstellen. Ihr Gehirn könne das nicht leisten, hieß es, und darum sah man gar nicht erst nach – bis 2002 ein Experiment in Oxford scheiterte, bei dem zwei Krähen mit einem Drahthaken nach Futter angeln sollten. Aber der Haken brach ab. Und dann fand man eines Tages, das jemand das Drahtende zu einem neuen Haken gebogen hatte.
Der Vogel.
Niemand wollte es glauben. Aber mit neuen Drähten zeigte sich, dass das kluge Tier dieses Kunststück mit Schnabel und Fuß wirklich fertig brachte. Inzwischen gibt es tonnenweise Literatur über Vogelintelligenz. Der Witz ist: Papageienbesitzer wussten schon immer, dass ihre Schützlinge so etwas können. Nur die Wissenschaft war zu arrogant, es zu glauben.
Zeichnen Sie Ihre Kollegen jetzt nicht überheblicher, als sie sind? Sie selbst haben doch eine ganze Generation von Verhaltensforschern geprägt. Und die bringen bis heute Erstaunliches über wilde Schimpansen zutage. Mich hat beispielsweise überraschte im vorigen Jahr ein Befund von der Elfenbeinküste. Dort adoptieren Schimpansen Waisen. Selbst Männchen umsorgen dort rührend die Kleinen, obwohl sie mit ihnen gar nicht verwandet sind. Dabei kümmern sich Schimpansenväter normalerweise nicht einmal um die eigenen Kinder.
Mich überraschte es nicht. Adoptionen haben wir auch an unseren Schimpansen beobachtet, wenn auch nur unter Verwandten. Und aus Zoos wissen wir, dass sich Tiere oft unter Lebensgefahr retten. Etwa, wenn ein Tier in den Wassergraben gefallen ist, springen sie hinein – wie auch Menschen ein fremdes Kind vor dem Ertrinken bewahren, oder es jedenfalls sollten. Dass Schimpansen selbstlos sein können, liegt an ihrer sehr langen Kindheit. Die Jungen sind fünf Jahre lang mit ihrer Mutter zusammen. So entstand in der Evolution eine starke Fürsorglichkeit, die sich offenbar sogar auf Nicht-Verwandte überträgt.
Meinen sie, wir können von den Schimpansen etwas lernen?
Wie die Mütter mit ihren Kindern umgehen, zum Beispiel. Sie haben so viel Spaß miteinander. Sie kitzeln ihre Babies, wirbeln sie herum, spielen mit ihnen. Und ich beobachtete: Je verlässlicher die Bindung zwischen Schimpansenmutter und ihrem Kind, einen umso höheren Rang nimmt es später in der Horde ein. Als dann mein Sohn zur Welt kam, habe ich mir von den Affenmüttern viel abgesehen.
Was haben Sie mit dem Jungen gemacht, während sie Tiere beobachteten?
Ich nahm ihn mit in den Urwald. Für die Zeiten, in denen ich nicht nach ihm sehen konnte, haben wir ihm einen großen Käfig gebaut. Darin konnte er spielen.
Warum haben Sie ihn eingesperrt?
Zum Schutz vor den Schimpansen. Wir wussten, dass sie Menschenbabies holen.
Was machen sie mit ihnen?
Aufessen. Menschen essen Schimpansen und Schipansen Menschen. Sie sind eben Primaten wie wir – mit dem Unterschied freilich, dass die Schimpansen die Menschen niemals ausrotten werden.
In ihrem ersten Buch beschrieben Sie die Schimpansen noch als Wesen voll Fürsorglichkeit, Mutterliebe und Intelligenz. Und nun stellten Sie fest, dass Sie es mit Kannibalen zu tun hatten.
Es war ein Schock. Ich hatte gedacht, sie sind wie wir, nur netter. Die erste Ahnung, wie brutal sie sein können, bekamen wir, als eine Studentin eine Schimpansenmutter verfolgte und zusehen musste, wie ein Weibchen einer Nachbargruppe die Mutter angriff und ihr Baby umbrachte. Die Angreiferin sah zu, wie das Opfer an den Wunden starb; anschließend verspeiste sie das Kind. Dann kam der vierjährige Krieg. Eine Gruppe von Schimpansen, die bis dahin friedlich zusammengelebt hatte, teilte sich, und die beiden neuen Gemeinschaften kämpften nun ums Territorium. Wann immer die Männchen ein Tier der anderen Horde erwischten, wurde es umgebracht.
Wenn sich so etwas unter Menschen abspielt, nennt man es ethnische Säuberung – ein schrecklicher Ausdruck.
Es war furchtbar zu sehen, wie ähnlich sie uns sind. Die jungen Männchen waren fasziniert von dem Morden. Sie wollten zusehen, wenn ein anderer starb.
Haben diese Vorkommnisse Ihre Sympathie für die Schimpansen geschmälert?
Manche fand ich widerwärtig, nicht alle. Bei Menschen empfinden Sie doch genauso.
Kollegen warfen Ihnen vor, dass Sie selbst den Krieg ausgelöst hatten, indem sie allzu großzügig Bananen anboten und dadurch starke Konkurrenz erzeugten.
Die Bananen spielten keine Rolle. Die Gruppe, die sich abgespalten hatte, interessierte sich nicht mehr für unsere Fütterung. Diese Tiere lebten wieder von den Früchten des Waldes. Und anderswo gab es auch Kriege zwischen Schimpansen.
Trotzdem: Haben Sie sich nie gefragt, ob Sie durch Ihre Gegenwart das Verhalten der Tiere verändern?
Das tut man immer. Am stärksten ist der Eingriff natürlich, wenn man die Tiere in Gefangenschaft hält. Beispielsweise haben Kollegen berichtet, auf welche raffinierte Weise Schimpansen in Zoos sich nach Konflikten aussöhnen. In der Natur sahen wir so etwas kaum – hier haben die Tiere Platz, einander einfach aus dem Weg zu gehen. Dafür pflegten wir intensive Beziehungen zu manchen Schimpansen. Wir berührten sie, spielten mit ihnen, durften sie sogar kitzeln. Es war magisch. Als klar wurde, dass wir lange im Urwald bleiben würden, haben wir damit aufgehört. Wir wollten die Tiere weder zu sehr an uns Menschen gewöhnen, noch sie mit Krankheiten anstecken.
Dennoch haben Sie mit manchen Affen so etwas wie Freundschaft geschlossen.
Eigentlich gibt es kein Wort für die Art unserer Beziehung. Ein Hund kann ein Freund werden, ein Schimpanse nicht. Sie haben ihre Freundschaften untereinander, aber sie wissen sehr genau, dass ein Mensch nicht zu ihnen gehört. Am ehesten ist es vielleicht gegenseitiges Vertrauen – und Respekt.
Ein heiliger Grundsatz der modernen Naturwissenschaften lautet: Der Forscher soll Distanz halten zu dem, was er untersucht, denn nur so kann er objektiv sein.
Ich habe mich in der Wissenschaft immer als Fremdling gefühlt. Warum kann man nicht objektiv sein, wenn man eine Gefühlsbindung eingeht?
Weil es dann schwer wird, zwischen den Eigenschaften des Gegenübers und den eigenen Wünschen an ihn zu trennen. Verliebte sehen in den Augen des oder Angebeteten vor allem sich selbst.
Aber in ein Tier sind Sie nicht verliebt. Sehen Sie sich meine Notizbücher an. Einmal etwa beobachtete ich, wie eine Schimpansenmutter ein Baby versorgte, das Opfer eines Angriffs geworden war. Das Fleisch hing in Fetzen von der Wunde, obendrein war ein Arm gebrochen. Und je mehr die Mutter ihr Kind wiegte, um es zu beruhigen, umso lauter schrie es vor Schmerzen. Sie begriff nicht, dass sie genau das Falsche tat. Die Tränen strömten nur so aus meinen Augen. Aber meine Aufzeichnungen beschreiben ganz objektiv den Hergang. Ich glaube vielmehr, dass wir die Empathie sogar brauchen. Nur wenn Sie sich in die Tiere hinein versetzen, werden Sie verstehen, was geschieht.
Können wir überhaupt verstehen, was in einem Tier vorgeht? Oft haben wir doch schon größte Schwierigkeiten, Menschen einer ganz anderen Kultur zu begreifen, wenn uns die Sprache fehlt. So ging es mir beispielsweise in Japan.
Und Schimpansen sind noch viel fremder, dabei sind sie unsere biologisch nächsten Verwandten. Als ich nach Cambridge kam, schrieb ich Sätze wie: „Schimpansenkind Fifi war eifersüchtig auf ihr neues Geschwister.“ Mein Doktorvater sagte, das kannst Du nicht beweisen. Aber er hatte einen klugen Rat. Ich sollte es so formulieren: „Fifi verhielt sich wie ein eifersüchtiges Menschenkind.“ Daran habe ich mich immer gehalten.
Eine berühmte Szene in ihrem ersten Buch beschreibt, wie Schimpansen vor einem Wasserfall tief im Urwald in eine Art Ekstase geraten.
So habe ich es beobachtet: Als die Tiere das Donnern des Wassers hörten, stellten sich ihre Haare auf. Und ihre Erregung stieg umso mehr, je näher sie kamen. Dann stiegen sie rhythmisch von einem Fuß auf den anderen, vielleicht 20 Minuten lang. Schließlich setzen sie sich auf einen Felsen und beobachteten nur still das Wasser.
Sie deuteten das Verhalten als Verehrung des Naturschauspiels. Die Schimpansen hätten eine Vorform der Religion. Ich finde diese Behauptung reichlich gewagt.
Nun, ich fragte mich, woher diese wunderbaren rhythmischen Bewegungen kamen – und ob solches Erschauern vor den Naturgewalten zu den ersten Naturreligionen geführt haben mag. Und ich selbst empfand große Ehrfurcht vor dem, was ich da sah. Im Grund habe ich die ganze Zeit im Gombe-Nationalpark empfunden, dass ich ein Teil von etwas Größerem bin. Dass es da ein Mysterium gibt, wenn Sie so wollen.
Sie fühlten sich eingebunden in eine höhere Ordnung.
Ja. Aber kann ich wissen, ob die Schimpansen genauso empfanden? Nein.
Nun besteht die Gefahr, dass wir den Tieren nicht gerecht werden, wenn wir sie vermenschlichen.
Sicher. Doch ist die Angelegenheit komplizierter: Einerseits legen wir großen Wert darauf, dass Tiere anders sind als wir ...
... wenn wir sie als Wesen ohne viel Verstand und Gefühle sehen, fällt es uns leichter, sie zu essen.
Beispielsweise. Doch andererseits machen wir Tierversuche. Da sperren wir also Schimpansen in winzige Käfige, um unsere eigenen Krankheiten besser zu verstehen. In manchen solcher Experimente wollen Mediziner sogar etwas unsere seelischen Leiden erfahren. Warum? Weil uns die Affen so ähnlich seien.
Wir sind schizophren.
Und nicht nur in unserem Verhältnis zu Affen. Eine kluge Untersuchung studierte einmal die Mitarbeiter von medizinischen Labors. Natürlich geben den Ratten und Hunden dort keine Namen und behandeln die Tiere eher als Sachen. Aber manche dieser Menschen haben Haustiere. Und kaum haben sie den Laborkittel ausgezogen, erklären sie, dass Ihr Dackel Teil der Familie sei und jedes gesprochene Wort versteht! Dabei wissen sie genau, dass nur entweder beide, Haus- und Laborhund, Gefühle und Verstand haben können oder keiner. Doch dass sie das eine Tier benennen, das andere nicht, schützt sie vor dieser Einsicht.
In früheren Kulturen plagten sich die Menschen offenbar mit so etwas einem Schuldbewusstsein gegenüber dem misshandelten Tier. Um sich davon zu befreien, war beispielsweise in der Antike das Schlachten oft mit einem Opfer an die Götter verbunden.
Typisch: Sie dachten an ihre Götter, nicht an das Tier. Die amerikanischen Ureinwohner hingegen beteten für das erlegte Wesen. Sie kamen der Wirklichkeit viel näher.
Meinen Sie, dass man Tiere töten darf?
Nicht ohne Grund. Wenn ich für das Leben meines Sohnes einen Schimpansen opfern müsste, würde ich es natürlich tun. Aber was heißt das schon? In dieser Lage wohl jeder statt des Schimpansen auch das Leben eines anderen Menschen drangeben. So ist das nun einmal mit der Verwandtschaft.
Nun sollten wir es gewiss nicht nur vom Grand unserer Verwandtschaft zu ihnen abhängig machen, wie wir uns gegenüber anderen Geschöpfen verhalten.
Nein. Mir fiele es mindestens so schwer, für meinen Sohn einen Hund statt eines Schimpansen zu opfern. Wahrscheinlich habe ich für Hunde sogar mehr Mitgefühl als für Affen. Entscheidend ist, dass wir Tiere nicht mehr Automaten sehen – sondern als kluge und empfindsame Individuen. Dann nämlich begreifen wir, wie sehr wir uns selbst entwürdigen, wenn wir ihnen sinnloses Leid antun.
Sie haben der Forschung ganz den Rücken gekehrt, um sich den Rechten der Tiere und dem Schutz der Umwelt zu widmen. Fiel ihnen das schwer?
Ja. Ich vermisse das Leben im Wald und würde zu gerne wenigstens die Daten auswerten, die jetzt andere dort sammeln. Aber ich konnte nicht anders. Auf einer Konferenz zu Ehren meines wissenschaftlichen Hauptwerks ierfuhr ich, wie bedroht die Schimpansen sind. Überall in Afrika verschwinden die Urwälder, der Handel mit Schimpansenfleisch blüht...
... das wussten Sie nicht? Sie lebten damals schon seit einem Vierteljahrhundert in Afrika.
Ich war so mit der Forschung, auch mit meinem eigenen Baby befasst, dass ich gar nicht gemerkt hatte, was um uns herum vorging. Und die Wissenschaftlerkollegen sprachen auch nicht darüber. Jedenfalls beschloss ich von einem Tag auf den anderen, dass ich unmöglich so weitermachen konnte. Ich wünschte, mehr Wissenschaftler würden begreifen, dass sie in erster Linie ein menschliches Wesen sein sollten und erst in zweiter Linie ein Forscher.
Anfangs setzten Sie sich vor allem für die Schimpansen ein. Inzwischen haben Sie sich den Naturschutz generell auf die Fahnen geschrieben und obendrein Projekte für die Landbevölkerung in afrikanischen Ländern gestartet. Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass wir die Zerstörung der Erde noch aufhalten können?
Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich aus reiner Anmaßung glaube, die Welt verändern zu können. Andererseits sagen mir Menschen immer wieder, wie viel Hoffnung ich ihnen gegeben habe. Und mir selbst erscheint mein eigenes Leben dadurch umso wertvoller – vor allem seit wir unser Jungenprogramm aufgelegt haben. Es begann vor genau zwanzig Jahren mit ein paar engagierten Schülern in Dar es Salaam, Tansania; heute haben wir Gruppen wir in mehr als hundert Ländern. Jede Gruppe entscheidet selbst, wie sie sich für die Umwelt und ihre Mitmenschen einsetzen will. Die jungen Leute können einen verschmutzten Flusslauf reinigen, sich um Straßenkinder kümmern, einen Solargenerator entwickeln, was immer sie wollen. Sie sollen lernen, in Harmonie mit anderen Menschen und der Natur zu leben. Und aus allen Teilen der Welt berichten sie mir, wie viel sie erreichen konnten. Die Fantasie und der Einsatz dieser Menschen geben mir Kraft.
Es heißt, sie sind 300 Tage im Jahr unterwegs, um ihre Gruppen zu besuchen und Vorträge zu halten. Die Menschen verehren Sie. Wie lebt es sich als Idol?
Ich wollte nie eine Ikone sein. Jetzt bin ich eine geworden und muss das Beste daraus machen. Ich versuche, möglichst wenig darüber nachzudenken. Den besten Rat habe ich schon früh in meiner Kindheit mitbekommen: Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.
in: Zeit-Magazin 18.8.11