Ist Luxus unmoralisch?
An Peter Singer scheiden sich die Geister. Seine Anhänger nennen ihn für einen der bedeutendsten Moralphilosophen unserer Zeit und loben sein unerschrockenes Denken. Unter ihnen sind viele Kollegen; Vegetarier, die ihn als Vorkämpfer des Tierschutzes sehen; Bill Gates hat es Singers bedingungsloses Eintreten für die Ärmsten der Welt angetan. Seine Gegner allerdings halten Singer vor, ihm sei menschliches Leben nicht heilig. Die erbittertsten Kritiker behaupten sogar, was Singer lehre, stehe in gefährlicher Nähe zur Ideologie der Nationalsozialisten. Dabei stammt der Singer aus einer uralten böhmischen Rabbinerfamilie.
Seine Eltern flohen vor der Nazis nach Melbourne, Australien, wo Singer 1946 geboren wurde und nach seinem Studium einen Lehrstuhl für Philosophie übernahm. Heute ist er außerdem Professor an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton.
Zu den Gesprächen dieser Serie sitze ich normalerweise meinem Diskussionspartner gegenüber. Singer zeigte sich unwillig – aus moralischen Erwägungen. Ob wir uns nicht auch über das Internet-Bildtelefon Skype unterhalten können? Eine Premiere.
Professor Singer, was spricht dagegen, von Berlin nach New York fliegen, um mit Ihnen zu reden?
Gewiss gibt es schlechtere Gründe, um die Welt zu jetten. Trotzdem: Es ist moralisch falsch zu reisen, wenn man nicht muss. Man belastet die Atmosphäre mit Klimagasen.
Bei einem einfachen Transatlantikflug sind es pro Passagier etwas mehr als vier Tonnen CO2 – in der Business-Klasse sind es sogar mehr als sechs Tonnen.
Das ist nur zu vertreten, wenn es keine Alternative gibt. Offenbar können wir uns ja auch über Skype unterhalten. Ich bezweifle, dass der Schaden durch Ihre Reise den größeren Nutzen eines persönlichen Gesprächs aufgewogen hätte.
Wie halten Sie es denn selbst mit dem Reisen? Sie haben ja eine Professur in Princeton und in Australien.
Ich bin kein Heiliger. Schlimmer noch: Neuerdings zahlen mir manche Veranstalter die Business-Klasse, wenn ich etwa auf einer Konferenz sprechen soll. Ich nehme das an, die Sitze sind ja viel bequemer. Leider lässt sich diese Entscheidung mit meinem persönlichen Komfort kaum rechtfertigen. Moralisch ginge sie nur in Ordnung, wenn ich dann ausgeruhter ankomme und meine Rede dadurch so viel überzeugender ist, dass sie mehr Menschen beeinflusst, Gutes zu tun.
Was genau verstehen Sie unter Moral?
Moralisch verhält sich, wer die Leben aller, auf die er Einfluss hat, verbessert. In Betracht ziehen müssen wir dabei nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch jene, die noch gar nicht geboren sind – soweit wir eben die Folgen unserer Handlungen voraussehen können.
Der Nutzen muss in der Summe größer als der Schaden sein.
Ganz genau. So fällt es mir schwer zu erkennen, wie diese Rechnung aufgehen soll, wenn jemand etwa einfach nur für vier Tage nach Thailand fliegt, um dort Urlaub zu machen.
Sie sind Utilitarist. Das heißt, für Sie gibt es kein Richtig und Falsch von vorne herein. Sie beurteilen Entscheidungen nach ihren Folgen. Ich nehme an, Sie hätten gar nichts dagegen, wenn ich lüge – solange das der Allgemeinheit zugute kommt.
Nur ist das gewöhnlich eben nicht der Fall. Wir alle haben ein Interesse daran, dass wir einander vertrauen können. Darum ist das Gebot, die Wahrheit zu sagen, berechtigt. Aber wären Sie auch ehrlich, wenn ein Mörder vor Ihrer Tür steht und nach dem Verbleib eines Freundes fragt, der sich in ihrem Haus versteckt und den er umbringen will? Immanuel Kant erklärte, dass die Pflicht zur Aufrichtigkeit nicht einmal diese Ausnahme verträgt: Sie müssten dem Mörder die Wahrheit sagen. Und leider ist die Szene ja alles andere als weltfremd. Vor nicht langer Zeit klingelten in Deutschland tatsächlich Mörder bei Menschen, die Juden versteckten.
Kant argumentierte, dass wir uns über die Folgen unserer Handlungen nie sicher sein können. Falls etwa das Opfer ohne mein Wissen ausgegangen ist, so könnten die beiden einander möglicherweise auf der Straße begegnen, weil ich gelogen habe.
Sehr unwahrscheinlich. Sie müssen davon ausgehen, was Sie erwarten können. Meist werden Sie den Freund mit ihrer Lüge retten. Darum ist sie gerechtfertigt.
Als Utilitarist werden Sie auch argumentieren müssen, dass Folter moralisch sein kann – etwa wenn sich ein Verbrechen nur so verhindern lässt.
Natürlich wurden unter der Regierung Bush solchen Praktiken missbraucht. Trotzdem: Wenn der Verdacht sehr begründet ist, dass sich Tausende Leben nur so retten lassen, würde ich der Folter zustimmen.
Die Schwierigkeit ist doch, dass man weder angeben kann, wann ein Verdacht »sehr begründet« ist, noch, ob die Grausamkeit gegen den Verdächtigen wirklich zum Ziel führt. Darum halte ich es für richtig, Mittel wie Folter unter allen Umständen auszuschließen. Vor ein paar Jahren konnte die Frankfurter Polizei den Entführer des Bankierssohns Jakob von Metzler verhaften, vom Opfer allerdings fehlte jede Spur. Da ließ der stellvertretende Polizeipräsident dem Häftling Folter androhen, um ihn zum Reden zu bringen und den Jungen zu retten.
Hatte er Erfolg?
Der Entführer führte die Polizei zur Leiche des Kindes. Der Polizeipräsident wurde wegen Nötigung verurteilt.
Mir scheint der Schuldspruch angemessen. Eine zivilisierte Gesellschaft muss Folter verbieten. Dennoch hat der Polizeipräsident möglicherweise richtig gehandelt. Wer gegen das Gesetz mit Folter drohen lässt, muss der die Folgen tragen.
Jetzt vertreten Sie eine Doppelmoral. Wer hinter verschlossenen Türen foltert, begeht demnach nicht unbedingt Unrecht. Wird die Sache aber bekannt, muss die Gesellschaft ihn strafen.
Als Utilitarist können Sie nicht immer gegen eine Doppelmoral sein. Wir brauchen öffentliche Regeln und müssen trotzdem zugeben, dass unter bestimmten Umständen Ausnahmen moralisch zulässig sind.
Die längste Zeit schrieben ihre Kollegen nur abstrakt über Ethik. Sie dagegen setzten praktische Fragen auf die Tagesordnung der Moralphilosophie: Vegetarismus, Abtreibung, Armut und die Entscheidungen von Ärzten über Leben und Tod. Was hat Sie dazu gebracht?
Der Ruhm dafür, dass die Ethik und Praxis wieder zueinanderfanden, gebührt mir nicht alleine. Aber ich habe beigetragen dazu. Die Philosophie war ja schon mal sehr lebensnah. Thomas von Aquin gab Ratschläge für Entscheidungen, David Hume hat über Selbstmord geschrieben, Kant über das Lügen und den ewigen Frieden. All das geriet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Mode. Es hieß plötzlich, dass sich Philosophen überhaupt nicht mehr als moralische Fragen heranwagen sollten; dies sei Sache der Prediger. Was für ein Unsinn!
Wollten Sie die Welt verändern?
Als Student in Melbourne hat mich die Politik sehr beschäftigt. Schließlich kämpfte damals auch Australien in Vietnam, und es gab Wehrpflicht. Das brachte mich auf Fragen wie: Wann ist ein Krieg gerechtfertigt? Darf man sich als Bürger seinem Staat widersetzen?
Bekannt wurden Sie dann mit einem Aufsatz über Armut. Sie argumentierten darin, dass es unmoralisch sei, im Luxus zu leben, während es anderswo Menschen am Lebensnotwenigen mangelt. Es ist bis heute Ihre am meisten zitierte Arbeit.
Ich schrieb sie 1971. Nach einem Aufstand im heutigen Bangladesh waren neun Millionen Menschen nach Indien geflohen, das als armes Land mit dem Zustrom überfordert war. Ich lebte zu der Zeit von einem kleinen Stipendium in Oxford. Aber ich fand es unerträglich, mir Dinge zu leisten, die ich nicht unbedingt brauchte, während Millionen Flüchtlinge weder Unterkunft noch sauberes Trinkwasser hatten und viele verhungerten. Da reicht es einfach nicht aus, ein paar Groschen in eine Sammelbüchse zu werfen, um sein Gewissen zu beruhigen.
Was taten Sie?
Meine Frau und ich beschlossen, dass wir von unserem damals nicht gerade üppigen Einkommen zehn Prozent für die Flüchtlingshilfe abgeben würden. Seitdem haben wir diesen Anteil zugunsten der Ärmsten der Welt immer weiter gesteigert. Und ich versuchte darzulegen, dass bei uns etwas grundsätzlich schief läuft – übrigens bis heute.
Sie haben uns Bewohner des reichen Nordens mit einem Menschen verglichen, der Zeuge wird, wie ein kleines Mädchen in einem Teich zu ertrinken droht, aber nicht ins Wasser steigt, weil er keinen Schmutz an den Schuhen will.
Ja. Wir sind moralisch nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Wenn Sie lieber einen Mercedes fahren als ein günstigeres Verkehrsmittel, bitte sehr. Aber damit haben Sie eben auch entscheiden, dass Ihnen Ihre Sitzheizung wichtiger ist als das Leben eines anderen, das Sie von dem Geld hätten retten können.
Nach einer Schätzung der Vereinten Nationen würden jedes Jahr 13 Milliarden Dollar zusätzlich genügen , um für alle Menschen der Welt eine einfache Gesundheitsversorgung einzurichten. Das entspricht ziemlich genau der Summe, die wir in Europa jährlich für Speiseeis ausgeben. Ich finde solche Zahlen ermutigend, weil sie zeigen, wie viel wir erreichen können sogar ohne großen Verzicht. Zugleich sind sie erschreckend ...
... ...weil sie zeigen, dass unser Bekenntnis, jedes Leben sei gleichviel wert, nur ein theoretisches ist. Sobald die Sache praktisch wird, handeln wir ganz anders.
Die Psyche steht uns im Weg.
Ja. Den wenigsten Menschen genügt es zu wissen, dass andere ihre Hilfe brauchen. Sie müssen es fühlen. Solange Sie ihnen die Lage nur erklären, werden sie untätig bleiben. Viel eher handeln sie, wenn sie ein Bild von einem Menschen in Not sehen.
Fotos von armen Kindern, denen wir mit einer Spende helfen können, sehen wir mehr als genug. Fast von jeder Plakatwand schaut uns eines an. Trotzdem spenden wir wenig.
Weil wir wissen, dass jeder andere Passant genauso gut helfen könnte, fühlt sich am Ende keiner verantwortlich. Wir verstecken uns in der Menge. Hier in New York gab es 1964 einen berühmten Mord an der jungen Kitty Genovese. Sie kam um, obwohl ein ganzes Wohnhaus ihre verzweifelten Schreie hörte. Aber niemand rief die Polizei, weil jeder damit rechnete, dass ein anderer es tut.
Und selbst wenn wir helfen, führen uns unsere natürlichen Reaktionen oft in die Irre. In einem schönen Experiment durften sich Menschen entscheiden, ob sie lieber ein paar Tausend Dollar aufbringen wollten, um einem namentlich genannten Mädchen mit einer Operation das Leben zu retten, oder ob sie mit demselben Betrag acht Kindern von einem tödlichen Leiden befreien wollten. Die meisten entschieden sich für Ersteres.
Merkwürdiger noch wird unser Verhalten, wenn wir erfahren, dass wir acht von hundert betroffenen Kindern retten können, die anderen aber nicht. Dann halten die meisten Menschen von vorneherein ihre Taschen zu. Wieviele Kindern sie nicht retten zu vermögen, scheint für sie wichtiger zu sein, als wieviele durch ihre Hife überleben könnten.
Offenbar ist unsere Intuition wenig hilfreich dabei, möglichst viel Leid aus der Welt zu schaffen. Vielleicht liegt es auch daran, dass unsere moralischen Regungen unter anderen Bedingungen als den heutigen entstanden. Die Gehirne wurden programmiert, als unsere Vorfahren in kleinen Gemeinschaften lebten. Da dürfte so etwas wie Not, von der wir nur wissen, die wir aber nicht an uns selber erfahren, gar nicht gegeben haben. Auch mag uns eine Vorliebe für Probleme angeboren sein, die wir vollständig lösen können. Vor den anderen schrecken wir zurück.
Gewiss, unser Wesen ist unserer Welt beklagenswert schlecht angepasst. Darum fällt es uns auch so schwer nachzuempfinden, dass ein Flug nach New York in der Business-Klasse moralisch genauso ernstlich falsch ist, wie einem armen Bauern mit Gift sein Feld unbrauchbar zu machen. Denn Treibhausgase haben genau diese Wirkung. Sie werden sehr wahrscheinlich für ausgedehnte Dürreperioden in Afrika sorgen, wodurch es den dortigen Bauern unmöglich wird, sich zu ernähren. Schon heute sterben der Weltgesundheitsorganisation zufolge 140 000 Menschen jährlich, weil sich durch den Klimawandel Infektionskrankheiten verbreiten. Künftig werden es noch viel mehr sein.
Wie können wir lernen, solche Fakten in bessere Entscheidungen umzusetzen?
Ganz machtlos ist die Vernunft auch wieder nicht. Immerhin hat mein Schreiben einige Wirkung gezeigt. So haben sich auf einer von mir eingerichteten Webseite. inzwischen mehr als 8900 Menschen verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens zugunsten der Ärmsten zu spenden. Sie mögen einwenden, das sind nicht allzu viele. Und doch werden wir schon mit diesen Beiträgen eine Menge ausrichten können.
Sie haben es dem Publikum, das Sie überzeugen wollen, ja auch schwer gemacht. Viele Menschen verbinden mit Ihrem Namen Ansichten über den Umgang mit Neugeborenen und Behinderten, die ihnen abscheulich erscheinen. Bei Ihren Auftritten in Deutschland gab es Tumulte, und als Princeton Sie zum Professor berief, stellten empörte Sponsoren der Universität ihre Zahlungen ein. Wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten sich mit Ihren Meinungen über Bioethik zurückgehalten – schon im Interesse der Ärmsten?
Interessante Frage. Einerseits trug der Skandal um manche meiner Schriften zu meiner Bekanntheit bei. Insofern half die Kontroverse meinen Anliegen auch. Andererseits konnte ich, als ich erstmals über Bioethik schrieb, gar nicht voraussehen, welche Aufregung meine Ansichten einmal auslösen würden.
Wirklich? »Sehr oft ist das Töten eines Neugeborenen kein Unrecht« heißt es zum Beispiel in Ihrem Hauptwerk „Praktische Ethik“. Ich finde das einen zutiefst verstörenden Satz.
Sie haben ihn aus dem Zusammenhang gerissen. Tatsächlich nahm über ein Jahrzehnt lang fast nur die Fachwelt Notiz von der „Praktischen Ethik“. Proteste gab es erst, als ich 1989 in Deutschland Vorträge hielt. Dann sprang die Behindertenbewegung auf, die es aber zur Entstehungszeit meines Buchs noch gar nicht gab.
Mit dem zitierten Satz beendeten Sie einen Abschnitt, in dem Sie argumentierten, dass es richtig sein kann, ein Neugeborenes, bei dem beispielsweise Bluterkrankheit festgestellt wurde, umzubringen. Würde Sie das heute noch so vertreten?
Ja – unter den Bedingungen, die ich damals genannt habe, wäre das philosophisch zu rechtfertigen., Ein Leben ohne Hämophilie ist zweifellos besser als eines mit. Die meisten Frauen entscheiden sich denn auch für einen Schwangerschaftsabbruch, wenn ein Gentest an ihrem Ungeborenen diese Erbkrankheit feststellt. Das ist legal, und wie ich finde, verständlich. Aber welchen Unterschied macht es, ob wir ein Baby noch im Mutterleib oder unmittelbar nach der Geburt töten?
Einen Gewaltigen. Eine späte Abtreibung belastet die Mutter körperlich und seelisch viel mehr als Schwangerschaftsabbruch etwa im zweiten Monat. Und noch ungleich schmerzhafter wäre es für sie, erst dann Baby zur Welt zu bringen und es dann töten zu lassen.
Sicher ist eine frühe Abtreibung besser. Aber das moralische Problem bleibt dasselbe. Wenn wir eine Abtreibung zulassen, dann müssen wir konsequenterweise auch das Einschläfern des Kindes nach der Geburt gestatten – sofern die Eltern ein solches Kind nicht aufziehen wollen und sich keine Adoptionsfamilie findet. Ich glaube nicht, dass der Staat Eltern zwingen sollte, gegen ihren Willen ein Kind aufzuziehen, das sie nicht lieben können. Unser Ziel muss sein, Leid zu vermeiden.
Darüber ließe sich streiten. Aber ich kann schon die Voraussetzung Ihres Arguments schlecht nachvollziehen: Woher sollen die Eltern eines Neugeborenen denn wissen, welche Gefühle später ihrem Kind entgegenbringen werden? Menschen sind notorisch schlecht darin vorauszusagen, mit welchen Emotionen sie auf eine ihnen unbekannte Situation reagieren.
Die Eltern müssten verpflichtet sein, sich vor ihrem Entschluss eingehend zu informieren.
Ich frage mich, wie viel Klarheit über die eigene Geistesverfassung wir mit einer Beratung wirklich gewinnen. Jeder weiß, was es heißt, im Rollstuhl zu sitzen. Fragt man Menschen nun, wie sich fühlen würden, wenn sie nach einem Unfall von den Schultern abwärts wären, antworten sehr viele: „Lieber wäre ich tot.“ Tatsächlich gewöhnen sich Parapleiker erstaunlich schnell an ihre neuen Lebensumstände. Sie machen eine Phase der tiefen Depression durch, schon nach weniger als einem Jahr aber sind die meisten wieder annährend so zufrieden mit ihrem Leben wie vor dem Unglück.
Es ist tatsächlich schwer, die eigenen Gefühlsreaktionen vorauszusagen. Aber alles, was Sie einwenden, trifft auf auch die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung zu.
Umso zweifelhafter erscheint mir ihr Versuch, moralische Urteile allein darauf zu begründen, welche Folgen einer Handlung wir erwarten. Wie sollen Menschen denn eine solch Entscheidung auf Leben und Tod verantwortlich fällen, wenn sie noch nicht einmal ihre eigene Gefühlsreaktion abschätzen können? Darum brauchen wir Regeln – wie die, dass niemand ein geborenes Kind umbringen darf.
Die lösen das Problem aber nicht. Ich begann über Infantizid nachzudenken, als Ärzte aus einer Neugeborenenstation bei mir vorstellig wurden. Damals, in den 1970er Jahren, war eine Spina bifida genannte Missbildung relativ häufig. Diese Kinder kamen mit einem oft unheilbar geschädigten Rückenmark zur Welt und gingen fast immer einem langsamen Tod entgegen. Was sollten die Ärzte tun? Erste Möglichkeit: Sie mit aller damals verfügbaren Technik behandeln und so das Leid in die Länge ziehen. Zweite Möglichkeit: Nichts tun, sodass sie wenigstens schnell, aber ebenfalls qualvoll starben. Dritte Möglichkeit: Sie einschläfern. Meist entschieden die Ärzte sich für das zweite. Uns schien die dritte Variante – der schnelle Tod durch eine Spritze – humaner. Glücklicherweise ist Spina bifida durch bessere Vorsorge in der Schwangerschaft inzwischen recht selten geworden.
Kann es also richtig sein, wegen weniger solcher Grenzfälle das Lebensrecht aller Neugeborenen infrage zu stellen?
Die Gefahr eines Dammbruchs sehe ich nicht.. In den Niederlanden ist Euthanasie schon länger erlaubt, wenn unheilbar Kranke es wünschen Dennoch ist der Respekt vor anderen Menschen dort sicher nicht geringer als anderswo in Europa. Die Holländer sind nur ehrlicher in dem, was sie tun. Es gibt so etwas wie Töten aus Mitleid. So scheint es, dass wir ohne Schaden Ausnahmen vom Verbot zu Töten zulassen können.
Die Beweislast liegt doch bei Ihnen! Wenn Sie ein dermaßen grundlegendes Verbot abschaffen wollen, sollten Sie nachweisen können, welchen Vorteil das bringt. Sonst wäre mir wohler, wenn wir schon aus Vorsicht bei der Regel blieben, dass man keine Menschen umbringen darf.
Der Vorteil wäre eben, dass wir keine unheilbar Kranken zum Leben zwingen würden, wenn diese es nicht möchten. Abgesehen davon ist ein Nachweis über mögliche Schäden und Nutzen leider unmöglich. Die moralischen Standards haben sich immer wieder verändert. Beispielsweise sind wir heute sexuell viel freizügiger als vor ein paar Jahrzehnten. Hat dies zum Zusammenbruch der Familie geführt, wie viele einst warnten? Heute hören wir besonders in Amerika wieder diese Befürchtung; ins Feld geführt wird sie nun gegen die Schwulenehe. Sehr begründet erscheint mir diese Angst nicht, aber schon wahr: Man kann es nicht wissen.
Insofern ist jede Ethik unbefriedigend – weil sie auf Vermutungen, nicht auf gesicherten Fakten beruht.
Ja, und ich wünschte, es wäre anders.
Warum sollen wir uns überhaupt moralisch verhalten?
Weil es uns selbst gut tut. Wir wünschen uns ein sinnvolles Leben. Und Menschen, die das Wohl anderer im Sinn haben, sind in aller Regel zufriedener als solche, die nur an sich selbst denken. Das haben psychologische Studien gezeigt.
Neue Untersuchungen aus der Hirnforschung gehen sogar noch weiter. Sie bewiesen, dass die Entscheidung, freiwillig mit anderen zu teilen, in uns Glücksgefühle auslösen kann. Dabei wird in unseren Köpfen eine Art Lustschaltung aktiv – derselbe Mechanismus, der uns wohlige Emotionen bereitet, wenn wir ein Stück Schokolade genießen oder guten Sex haben.
Das ist sehr interessant. Gegen solche Ergebnisse wenden manche Philosophen ein, dass wir uns nur dann moralisch verhalten, wenn wir selbst gar nichts davon haben. Alles andere sei nur eine höhere Form von Egoismus, welcher die Moral unterminiert. So sah es etwa Immanuel Kant. Ich halte dies für einen schädlichen Irrtum. Denn es ist doch höchst begrüßenswert, wenn wir die Menschen darüber aufklären, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, anderen zu helfen.
Und was machen Sie mit Ihren Schuldgefühlen, wenn Sie wieder einmal Ihren moralischen Einsichten zuwiderhandelten – etwa indem Sie unnötigerweise um die Welt flogen?
Nun, man kann sich der nächsten Gelegenheit die Reise ausfallen lassen, das gesparte Geld einer humanitären Organisation geben und sehen, wie sich das anfühlt. Zudem erweist sich ein Wochenende mit Freunden auf dem Land ja auch als befriedigender als der geplante Shopping-Trip nach New York. So gewöhnt man sich allmählich daran, Gutes zu tun.
erschienen im ZEITmagazin 12/2011