Ein Streitgespräch mit Richard Dawkins
Sind wir als Egoisten geboren? Im Jahr 1976 veröffentlichte Richard Dawkins, ein damals völlig unbekannter Biologe aus Oxford, ein aufsehenerregendes Buch. Es hieß „Das egoistische Gen“ und wurde schnell zur Pflichtlektüre für alle, die sich für die tieferen Ursachen unseres Verhaltens interessierten. Dawkins beschrieb darin eine Welt, in der die Gene uns programmieren, zutiefst eigennützige Wesen zu sein. Aber schon bei meiner ersten Lektüre regten sich Zweifel: Könnte es nicht sein, dass Menschen in Wirklichkeit weniger egoistisch sind, als sie scheinen? Möglicherweise siegt auf lange Sicht gerade nicht das egoistische Gen, sondern die Selbstlosigkeit. Die Gedanken inspirierten mich; schließlich schrieb ich über sie sogar ein eigenes Buch.
Seit seinem spektakulären Erstling hat sich Dawkins in vielen Werken höchst eloquent starkgemacht für eine darwinistische Weltsicht, er wurde Professor für Wissenschaftsvermittlung an der Universität Oxford. Zuletzt trat er als heftiger Kritiker aller Religionen hervor. „Darwins Rottweiler“ nennt man ihn. Doch der Mann, der mich auf der Terrasse seines sehr britischen Hauses empfing, stellte sich als ein hinreißender Gesprächspartner heraus – und höchst besorgt um das Wohl seiner Mitmenschen.
Professor Dawkins, sie haben auf einer Kreuzfahrt mit geladenen Gästen in der Karibik ein interessantes T-Shirt getragen. Auf Ihrer Brust stand: „Atheisten für Jesus“. Ließ die tropische Sonne sie ihre Liebe zum Christentum entdecken?
Das nicht. Aber Jesus war ein guter Mann. Dass er an Gott glaubte, versteht sich von selbst: Jeder war zu seiner Zeit religiös. Hätte Jesus gewusst, was wir heute wissen, wäre er wahrscheinlich Atheist, aber ebenso menschenfreundlich gewesen. Immerhin hat er der Grausamkeit der damaligen Religion abgeschworen.
Anstelle der Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ setzte er das Gebot, seine Feinde zu lieben und ihnen wenn nötig auch noch die andere Wange hinzuhalten.
Kein Wunder, dass sie ihn ans Kreuz genagelt haben: In seinem Willen zu Versöhnung war er subversiv. Nun lassen die Gesetze der Evolution ein gewisses Maß an Nettigkeit gegenüber anderen zu. Aber Jesus war supernett. Sein Verhalten war geradezu eine Perversion des Darwinismus – man könnte auch sagen, aus Sicht der Evolution und der rationalen Entscheidungstheorie völlig bescheuert.
Er war und ist ja nicht der Einzige, der selbstlos handelte. All die Menschen, die sich für das Wohl anderer einsetzen, die ihr Geld oder ihr Blut spenden, mitunter sogar ihr Leben für ihre Mitmenschen riskieren, sind aus Ihrer Sicht völlig bescheuert?
Von einem darwinistischen Standpunkt aus gesehen, ja. Gewiss sollten wir Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit kultivieren. Aber ich weiß nicht, wie viel uns die Natur dabei hilft. Die Evolution ist überaus grausam. Schon Darwin berichtete von Schlupfwespen, die ihre Eier in Raupen ablegen, damit die Larve die Raupe anschließend von innen her auffrisst. Jedes Mal, wenn sich ein Parasit eines Wirtstiers bemächtigt, ein Jäger seine Beute erlegt, gibt es Leid. Die Natur kümmert sich nicht darum. Im Gegenteil: Wo zu wenig gelitten wird, ist der optimale Zustand noch nicht erreicht. Tiere vermehren sich solange, bis die Ersten verhungern. Und die größten Schönheiten der Natur, die Geschmeidigkeit der Leoparden, die Eleganz der Pferde, der eindrucksvolle Kopfschmuck der Hirsche sind letztlich nichts als das Ergebnis eines Wettrüstens – und von unendlich viel Leid.
Ohne diese Grausamkeit wären niemals Menschen entstanden.
So ist es.
Und die Gesetze Darwins liegen nach Ihrer Auffassung unserem Zusammenleben noch heute zugrunde.
Ja. Das macht es umso erstaunlicher, dass einige Menschen anscheinend zur Supernettigkeit fähig sind.
Sie haben uns Menschen bezeichnet als „Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.“ Die egoistische Gene seien Frankensteine und alles Leben ihr Monster. Denn normalerweise würden die egoistischen Gene auch egoistisches Verhalten bewirken. Das alles würden Sie heute wieder so formulieren?
Natürlich.
Einer Ihrer ausländischen Verleger soll drei Nächste lang nicht geschlafen haben, als er zum ersten Mal mit Ihren Büchern in Berührung kam, so kalt und düster erschien ihm die Botschaft. Wie fühlten Sie sich eigentlich beim Schreiben?
Gewiss nicht düster. Eher erregt, der Wahrheit auf der Spur zu sein.
Wenn es denn die Wahrheit ist. Ich glaube, dass es sehr viel mehr Selbstlosigkeit unter den Menschen gibt, als Sie mit Ihrer Theorie erklären können. Millionen Bürger Ihres und meines Landes setzen sich freiwillig für andere ein. Und moralisches Verhalten finden Sie überall auf der Welt. Schon der junge Charles Darwin wunderte sich auf seiner Weltumseglung mit der HMS Beagle über die nackten Ureinwohner Feuerlands. Diese „Wilden“, wie er sie nannte, waren nie mit Menschen einer anderen Kultur zusammengekommen. Trotzdem rühmte Darwin ihren Anstand und ihren Gerechtigkeitssinn. Darwin sprach von einem „sozialen Instinkt“, den er sich freilich nicht erklären konnte.
Eine Erklärung ist Handel. Menschen sind darauf angewiesen, zu tauschen. So entwickelten sie einen feinen Sinn für Schuld und Dankbarkeit. Und nicht zuletzt achten sie auf ihren guten Ruf. Das Gefühl der gegenseitigen Verpflichtung war bis zur Einführung des Geldes die Währung, in der Menschen ihre Geschäfte abwickelten.
Sogar das Mitleid meint Ihr amerikanischer Mitstreiter Robert Wright mit Kaufmannsinn begründen zu können.
Er schrieb: „Tiefes Mitgefühl ist lediglich hochdifferenzierte Anlageberatung.“ Wer für einen Ertrinkenden in einen kalten Fluss springe, habe bei ihm etwas gut. Und je verzweifelter die Lage des Empfängers, desto höher der Betrag auf dem Schuldschein.
Ich kann dieser Argumentation beim besten Willen nicht folgen. Kein Mensch kalkuliert seinen Vorteil, wenn er das Leben eines anderen rettet.
Nicht bewusst. Wright geht es wie mir nur darum zu verstehen, woher unser Instinkt kommt, anderen zu helfen.
Darauf, dass Menschen offenbar doch solche Instinkte haben, können wir uns einigen. Und natürlich handeln wir ständig nach dem Prinzip, dass eine Hand die andere wäscht. Aber vieles lässt sich damit überhaupt nicht begründen. Denken Sie an Soldaten, die sich selbst auf eine explodierende Granate werfen, damit ihre umstehenden Kameraden überleben. Solche Vorkommnisse wurden aus allen Kriegen berichtet.
Oft machen Menschen schlicht einen Fehler, wenn sie sich selbstlos verhalten. Wenn Soldaten in der Schlacht mutig sind, machen sie sich beliebt. Damit verbessern sie ihre Fortpflanzungschancen durchaus. Hier in England gab es während des Ersten Weltkriegs eine Zeit, da gaben die Mädchen Männern, die nicht in Uniform waren, eine weiße Feder. Das bedeutete: Feigling. Solchen sozialen Druck gab es wahrscheinlich schon in frühen menschlichen Gesellschaften, und ich könnte mir vorstellen, dass er Männer risikofreudig machte. Mitunter eben zu risikofreudig.
In Deutschland zogen die Soldaten in Hochstimmung in den ersten Weltkrieg. Sie dachten gar nicht daran, dass sie sich einer besonderen Gefahr aussetzen würden.
In England genauso. „Gott sei gedankt, dass er uns diese Stunde gab“, dichtete damals der Poet Robert Brook. Viele Menschen verehrten seine Werke.
Eben. Offenbar waren sie begeistert davon, für ihr Land, ihre Gemeinschaft zu kämpfen. Ich bezweifle, ob sich dieser Aufopferungswillen allein mit der Sorge der Männer um ihren guten Ruf erklären lässt.
Da mögen Sie recht haben.
Zumal sich selbstverständlich beide Geschlechter selbstlos verhalten – auch dann, wenn ihre Nächstenliebe gar nicht gut angesehen ist. Zehntausende Europäer haben unter der Naziherrschaft Juden vor dem Konzentrationslager bewahrt und dafür ihr eigenes Leben riskiert.
Wissen Sie, warum Motten ins Licht fliegen?
Nein.
Natürlich wollen sie sich nicht selbst verbrennen. Der Instinkt entstand offenbar zu einer Zeit, als Sonne, Mond und Sterne die einzigen Lichtquellen waren. Die Insekten benutzen sie als Kompass – sie fliegen in einem bestimmten Winkel zu dem Himmelkörper. Wenn sie aber dasselbe mit einer Lampe versuchen, dann scheint die Lichtquelle für das Tier ständig die Position zu ändern. Sie ist ja nicht unendlich weit weg. So ändert auch das arme Insekt seinen Kurs immer wieder – und fliegt in einer Spirale in die Flamme hinein.
Für eine ähnliche Fehlanpassung halten Sie die menschliche Selbstlosigkeit!
Ja, ich vermute, dass Fehlentscheidungen für viele menschenfreundliche Heldentaten verantwortlich sind. Unsere Gehirne entstanden in einer Epoche, als die Menschen in ihrem Clan lebten. Für seine Familienangehörigen den Kopf hinzuhalten ist aus Sicht der egoistischen Gene höchst sinnvoll. In Ihren Verwandten lebt schließlich ein Teil Ihres Erbguts fort. Heute sind wir von Fremden umgeben. Aber der Impuls, zu allen nett zu sein, ist uns geblieben. Er ist eine Verirrung in der heutigen Welt.
Wer sagt, dass die frühen Menschen nur im Kreis ihrer Familienangehörigen lebten? In Stammesgesellschaften, die bis in unsere Zeit überlebt haben, finden die Ethnologen größere Verbände. Trotzdem stehen die Jäger und Sammler füreinander ein. Übrigens wurden vor wenigen Monaten wurden neue Forschungsergebnisse über Schimpansen veröffentlicht: Die Affen ziehen Waisenkinder auf, die nicht mit ihnen verwandt sind. Interessanterweise tun sie es vor allem dann, wenn beispielsweise herumstreunende Leoparden ihre Horde bedrohen – als wüssten die Tiere, dass die Gemeinschaft in Gefahr zusammenhalten muss und es auf jeden Einzelnen ankommt. Ich vermute, dass ein solcher Hang zur gegenseitigen Fürsorge auch uns Menschen eingeprägt ist.
Nun, wenigstens gäbe es eine gut darwinistische Erklärung dafür: Jeder Einzelne hat ein Interesse daran, dass seine Gemeinschaft nicht zu schwach wird. Sonst wäre am Ende auch sein eigenes Leben gefährdet.
Ja. Aber interessant ist doch, dass die Individuen einen hohen Preis dafür bezahlen, um ihre eigene Existenz, doch ebenso die ihrer Genossen zu sichern. Schließlich könnten sie auch als Trittbrettfahrer abwarten, bis ein anderer sich der gemeinsamen Sache annimmt. Doch bei den meisten scheint der Impuls zur Hilfsbereitschaft stärker zu sein.
Was sich mit der Sorge um den guten Ruf erklären lässt.
Sind Sie sicher? Schon Zweijährige zeigen Einfühlungsvermögen in die Nöte eines anderen und versuchen zu helfen. Denen ist ihr Ruf völlig egal.
Ich bestreite doch gar nicht, dass Menschen zur Empathie fähig sind und aus Mitleid erstaunliche Dinge tun. Aber diese Feststellung allein hilft uns nicht weiter. Wir müssen verstehen, woher diese Regungen kommen.
Eine bedenkenswerte Theorie stammt von der amerikanischen Anthropologin Sarah Hrdy. Sie wunderte sich über den enormen Aufwand, der nötig ist, um ein Menschenkind großzuziehen. Ein auf sich gestelltes Elternpaar könne in der Natur gar nicht ein ganzes Jahrzehnt lang ausreichend Nahrung heranschaffen, die der Nachwuchs für einen sicheren Start ins Leben braucht. Fortpflanzen könnten sich die Menschen daher nur, wenn eine Gemeinschaft sie unterstütze. Natürlich dauert unsere Jugend so lange, weil das menschliche Gehirn ungewöhnlich viel lernt und deswegen extrem langsam heranreift. So mussten Hrdy zufolge die Menschen erst die freundlichsten aller Affen werden, bevor sie sich auch zu den klügsten entwickeln konnten.
Das klingt plausibel. Wir müssen tatsächlich noch eine Menge herausfinden, bis wir den menschlichen Altruismus wirklich verstehen. Dazu müssen wir den Darwinismus sehr subtil betreiben. Es genügt nicht festzustellen, dass Menschen irgendetwas tun ...
... beispielsweise sich um andere kümmern ...
... und dann nach dem evolutionären Vorteil dieser Handlung suchen. Die Frage muss vielmehr sein, welchen Wert es hat, ein Hirn zu besitzen, dass unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Verhalten befiehlt.
Eben. Nicht alles, was wir tun, muss sich direkt auszahlen. Oft scheint unsere Natur höchst verschlungene Wege zu gehen. Beispielsweise sind Menschen, die sich für andere einsetzen, nicht nur zufriedener und gesünder als Egoisten – sie leben sogar länger. Das haben mehrere große Studien ergeben. Dabei würde man das Gegenteil erwarten: Wer für seine Mitmenschen sorgt, nimmt für sie ja erst einmal einen persönlichen Nachteil in Kauf.
Wirklich erstaunlich. Weiß man, warum Altruismus mehr Lebensjahre beschert?
Es hängt mit bestimmten Botenstoffen im Gehirn zusammen, wie etwa dem Oxytocin. Sie werden ausgeschüttet, wenn wir Bindungen zu anderen eingehen. Gleichzeitig aber wirken sie angstlösend und dämpfen die Stressreaktion. Auf diesem Umweg hilft Selbstlosigkeit Herz-Kreislaufkrankeiten und viele andere Leiden vorzubeugen.
Ein echter Hardcore-Darwinist würde jetzt fragen: Wenn es so ist, warum können wir die Wohltaten des Oxytcins nicht haben, ohne dass wir dafür erst einen Preis an einen Mitmenschen zahlen müssen? Hätte die Evolution an bestimmten Menschen eine solche Anpassung vornehmen können, wären diese gegenüber anderen besser gestellt. Aber offenbar hätte ein derartiger Umbau unserer Erbsubstanz andere Nachteile gebracht. So könnte es dabei geblieben sein, dass Einsatz für andere indirekt vor Krankheiten schützt.
Mir scheint allerdings, dass unsere Bereitschaft zum Miteinander viel mehr ist als nur ein Nebenprodukt oder ein „Fehler“: Die Natur hat uns regelrecht darauf programmiert, mit anderen zu teilen. Die meisten Menschen empfinden Lustgefühle dabei. Das zeigen neue Hirnforschungsexperimente. Wenn die Versuchspersonen anderen freiwillig etwas abgeben, werden im Kopf Schaltungen aktiv, die uns auch beim Genuss einer Tafel Schokolade oder beim Sex in Hochstimmung bringen.
Vielleicht erklärt dies Phänomene wie die Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, ob Menschen freiwillig und ohne Bezahlung ihr Wissen der Welt zur Verfügung stellen würden, hätte ich geantwortet: Niemals! Aber offenbar wenden heute Hunderttausende auf der ganzen Welt viel Zeit und Mühe auf, um genau das zu tun. Zu gerne wüsste ich mehr darüber, was diese Menschen antreibt.
Jedenfalls weder Hoffnung auf Gegenleistung noch die auf Reputation. Wer hier schreibt, tut es ja fast immer unter einem Decknamen. In Umfragen geben die meisten Wikipedianern tatsächlich Motive an wie: „Ich habe Spaß am Schreiben“, „Ich finde es wichtig, anderen zu helfen“, oder „Information sollte für alle frei zugänglich sein“. Und die Autoren, die so antworten, tragen auch am meisten bei. Offenbar tun sie es hauptsächlich aus Freude am Teilen.
Ich kann sie verstehen. Ich war einmal süchtig danach, Computer zu programmieren. Dabei habe ich immer größten Wert darauf gelegt, dass andere Leute mit den Lösungen, die ich für mich selbst fand, auch etwas anfangen konnten. Wenn sie die Programme, die ich verschenkte, nicht übernahmen, wurde ich ganz traurig.
Die Frage ist, wie man Menschen in dieser Freude am Teilen bestärken kann.
Gewiss: Wie können wir Dummheit im darwinistischen Sinne verbreiten?
Ist es dumm, wenn Menschen beispielsweise einander vertrauen? Nur so können wir überhaupt miteinander Geschäfte machen. Am Ende profitieren alle davon. Gewiss sind Sie erst einmal im Vorteil, wenn Sie sich in alle Richtungen absichern und ohne Rücksicht auf Verluste anderer nehmen, was Sie kriegen können. Aber ökonomische Experimente zeigen eindruckvoll, dass Versuchspersonen, die anderen erst einmal Glauben schenken und deren Vertrauen belohnen, auf lange Sicht höhere Gewinne einfahren. Denn deren Partner revanchieren sich in der Regel. So kann sich im Zusammenleben der Menschen ein ganz anderes evolutionäres Gleichgewicht einstellen als unter Raubtieren.
Solche Effekte sind in der Tat faszinierend. Aber gerade sie werden doch befördert durch die Sorge um die Reputation. Tiger kennen keinen Tratsch, Menschen wohl. Wenn ich als anständiger Zeitgenosse dastehe, habe ich mehr Aussicht auf gute Geschäfte.
Zweifellos hilft es, wenn Menschen, die fair sind und etwas für andere tun, dafür öffentlich Lob bekommen. Aber es gibt eben auch ganz andere Wege, um die Hilfsbereitschaft zu steigern. Entscheidend ist etwa, ob wir an den guten Willen der Mitmenschen glauben. Schweizer Wissenschaftler beispielsweise testeten, ob ihre Studenten bereit wären, bei der Einschreibung anonym einen freiwilligen Beitrag zur Unterstützung ausländischer Kommilitonen zu zahlen. Eine Hälfte der Studenten erfuhren auf dem Fragebogen, dass die meisten ihre Kollegen den Beitrag entrichteten, die andere Hälfte das Gegenteil. Der Spendenbereitschaft der ersten Gruppe war sehr viel höher.
Auch das kann ich nachempfinden. Wir wollen nicht als einsame Wohltäter dastehen, während sich die anderen entziehen. Da zeigt sich unser Gerechtigkeitsempfinden...
... das wohl ebenfalls evolutionäre Ursachen hat. Kinder legen schon erstaunlich früh Wert auf Fairness, selbst wenn sie dafür etwas abgeben müssen.
Gerade weil der Gerechtigkeitssinn so mächtig ist, können wir ihn ausnutzen, um die Selbstlosigkeit der Menschen zu fördern. Wir sollten schon Kindern dazu ermutigen, sich immer wieder in die Lage der Benachteiligten zu versetzen. Mit der Zeit würde ihnen eine Gesellschaft, in der Menschen füreinander da sind, viel erstrebenswerter erscheinen als eine, in der jeder für sich kämpft. Und wir haben durchaus Anlass zum Optimismus. Im Lauf der Menschheitsgeschichte haben sich die moralischen Standards ständig verbessert. Denken Sie nur, was sich während der vergangenen Jahrzehnte getan hat! Wir sind heute viel weniger rassistisch als die Menschen noch vor einer Generation. Und Flächenbombardements wie im Zweiten Weltkrieg sind inzwischen undenkbar. Nicht einmal mehr ein George W. Bush würde Angriffe wie die auf Coventry, Hiroshima oder Dresden befehlen.
Vielleicht beginnen die Menschen einzusehen, dass sie in einem Maße wie niemals zuvor voneinander abhängig sind. Es wird uns gar nichts anders übrig bleiben, als über alle Grenzen hinweg Hilfsbereitschaft und das Teilen zu lernen. In einer Welt, die rasant zusammenwächst, wird es immer riskanter, nur dem Prinzip Eigennutz zu folgen. Abgesehen davon bringt es auch immer weniger Gewinn. Gerade in unserer heutigen Welt ist Altruismus eben keine Verirrung. Das Wohl anderer im Blick zu haben wird zunehmend ein Erfolgsrezept – und lebensnotwendig.
Darauf können wir uns einigen.
Erschienen in: ZEIT magazin 38/2010