Was ist gerecht?
Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr über unser angeborenes Bedürfnis nach Fairness, selbstlose Einzelkinder und die Frage, wie viel Ungerechtigkeit eine Gesellschaft aushält.
Erschienen in Zeit-Magazin 31/09
Professor Fehr, waren Sie zuletzt über eine Ungerechtigkeit wütend?
Bei der Zeitungslektüre heut’ früh. In der Diskussion um die Managerboni empfinde ich so wie fast alle. Wenn Vorstände mit riesigem Einkommen, die in den vergangenen Jahren ihr Unternehmen ruiniert haben, eine Millionenzahlung verlangen und bekommen, regt das die Öffentlichkeit zu Recht auf.
Sie sind ein Fachmann für Gefühle in der Ökonomie. Das ist ungewöhnlich: Die Wirtschaftswissenschaft gilt als eine, die kalt auf die Welt blickt.
Zu Unrecht. Zwar unterstellt die klassische Wirtschaftswissenschaft dem Menschen, völlig rational und eigennützig zu handeln. Trotzdem spielten bestimmte Emotionen unausgesprochen in ihr immer eine Rolle.
Die Gier.
Oder Angst. Nur nennen meine Kollegen dies eben nicht Gefühle, sondern »Präferenzen«. So, wie Sie vielleicht lieber Schokolade kaufen als Sauerkraut, haben Sie eben auch eine Präferenz, Risiken zu meiden oder zu suchen. Bei Entscheidungen spielen Emotionen eine Rolle.
Wenn es eine Präferenz für Gerechtigkeit gibt, hat die Wirtschaftswissenschaft die längste Zeit davon geschwiegen.
Die Ökonomie hat sie systematisch ausgeblendet. Natürlich ist Eigennutz ein sehr wichtiges Motiv. Aber wir mussten erst den Beweis dafür antreten, welchen Fehler man macht, wenn man daneben Antriebe wie Gerechtigkeitssinn und Altruismus einfach unter den Tisch kehrt. Lange wurden wir dafür belächelt.
Die vorherrschende Ideologie war, dass eine Wirtschaft am Besten funktioniert, wenn man nur das Profitstreben bestärkt. Dass dies dermaßen gründlich daneben ging, müsste Ihnen doch eine Genugtuung sein.
Ist es. Leider müssen nun aber diejenigen die Rechnung bezahlen, die für das Desaster nichts können.
Sie müssen schon früh ein starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit empfunden haben. Angeblich begannen Sie mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften, weil Sie hofften, damit zu einem besseren Los der Entwicklungsländer beitragen zu könnten. Haben Sie das wirklich geglaubt?
Ja. Ich wurde in der Studentenbewegung der späten 1970er Jahre politisiert, da war Entwicklungspolitik ein wichtiges Thema.
Sie gehörten einer Gruppe namens Roter Börsenkrach an.
Nun ja. Einer unserer Professoren überzeugte mich, dass man das, was man kritisiert, gut kennen muss. So lernte ich neoklassische Ökonomie, das nützt mir bis heute. Gleichzeitig aber habe ich mein Fach aber immer als einen zu engen Rahmen empfunden. Statt Schumpeter, den bedeutenden österreichischen Ökonomen, las ich lieber Sigmund Freud.
Sie liebäugelten auch mit Theologie. Wollten Sie Priester werden?
Ich konnte es mir vorstellen. Ich komme aus einer katholischen Gegend und hatte die lateinamerikanischen Befreiungstheologen gelesen. Das linke Christentum brachte mich überhaupt erst zur Politik.
Warum ist aus der Theologie dann nichts geworden? Die Frauen?
Nein, nein. Eher merkte ich, dass es mir um eine gerechte Welt hier auf der Erde ging, nicht um ein gerechtes Paradies irgendwo anders.
Wer den Drang verspürt, die Welt zu verbessern, wird gern abfällig ein »Gutmensch« genannt. Ärgert Sie das?
Nicht, solange man damit nur die guten Absichten meint. Ich wehre mich allerdings, wenn damit Naivität unterstellt wird, wie es so oft geschieht. Denn ich habe sehr viel darüber nachgedacht, wie man die Gesellschaft verbessern kann, ohne auf naive Lösungen zu verfallen.
Was ist das, Gerechtigkeit?
Wollen Sie eine abstrakte Definition von mir?
Eine konkrete wäre mir lieber.
Am übersichtlichsten ist die Angelegenheit, wenn Sie ein öffentliches Gut haben, von dem alle profitieren – wie die Kasse einer Arbeitslosenversicherung. Nun gibt es stets Trittbrettfahrer, die wenig zu dem Gut beitragen, aber kassieren. So etwas empfinden fast alle als ungerecht.
Jetzt ist die Angelegenheit vielleicht etwas zu einfach geworden: Sie könnten den Trittbrettfahrer, wie geschehen, »Florida-Rolf« nennen und behaupten, dass er sich auf Kosten der Allgemeinheit in der Sonne aalt. Und schon haben Sie den Stoff, aus dem man Politik machen kann.
Aber eben auch Wissenschaft. Denn nun können Sie messen, welches Maß an Schmarotzertum die Menschen gerade noch erträglich und welches sie himmelschreiend finden. Das machen wir mit Spielen, ein Ausdruck, der die Experimente ein wenig verniedlicht. Es dreht sich alles um strategische Entscheidungen. Beliebt ist etwa das sogenannte Vertrauensspiel: Ich habe zehn Euro und Sie haben zehn Euro. Wenn ich Ihnen mein Geld gebe, wird der Spielleiter es verdreifachen, dann haben Sie vierzig Euro. Nun möchte ich wissen, wie viel Sie mir von diesen vierzig zurückgeben wollen. Sie können frei entscheiden.
Ich spiele sozusagen eine Bank.
Genau. Der Witz ist, dass ich Sie in dem Spiel nicht zwingen kann, mir überhaupt etwas zurück zu bezahlen. Trotzdem tun es die meisten Menschen. Warum? Weil sie eine Gerechtigkeitspräferenz haben?…
…?oder fürchten, dass der andere sonst nie wieder mit ihnen ein Geschäft macht.
Das Vertrauensspiel funktioniert sogar mit Spielern, die wissen, dass sie einander nach einer Runde nie wieder begegnen. Das kann die herkömmliche Ökonomie nicht erklären.
Solche Spiele sind ja recht konstruiert. Wie viel sagen sie über die viel komplizierteren Zusammenhänge im wirklichen Leben aus?
Wir nehmen die Spiele nicht für sich allein, sondern versuchen, sie durch systematische Studien realer Situationen zu ergänzen. Wenn Sie an das Vertrauensspiel denken: Auch im Alltag sind Sie meist ehrlich, obwohl Sie es nicht sein müssten. Sie bezahlen den Taxifahrer, auch wenn es ein Leichtes wäre, einfach wegzulaufen, geben sogar Trinkgeld in einem Lokal, das Sie nie wieder besuchen. Und die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte existierten gar keine bindenden Verträge. Wir vermuten, dass sich dadurch evolutionär eine Gerechtigkeitspräferenz durchgesetzt hat. Denn Gesellschaften, in denen man Versprechen hält, funktionieren besser als solche, in denen jeder nur seinen kurzfristigen Vorteil sieht.
Gerechtigkeit so verstanden heißt zunächst, sich gegenüber seinen Geschäftspartnern loyal zu verhalten. Dadurch allein entsteht noch keine bessere Welt.
Oft sogar eine schlechtere. Alle Übel der Korruption wären schnell erledigt, wenn die Bestechlichen nach Empfang des Schmiergeldes keinen Drang spüren würden, sich erkenntlich zu zeigen. Oder erinnern Sie sich an Helmut Kohl: Er verweigerte in der CDU-Spendenaffäre wohl gegen sein eigenes Interesse die Zusammenarbeit mit den Ermittlern, weil er sein Ehrenwort gegeben hatte, die Geldgeber nicht zu verraten.
Ein lupenreiner Egoist an seiner Stelle hätte der Demokratie bessere Dienste erwiesen.
Vermutlich.
Wenn Gerechtigkeitsempfinden so tief in uns verankert ist: In welchem Maß ist es uns angeboren, in welchem erlernt?
Altruismus-Gene hat zwar noch niemand gefunden, aber wir haben Hinweise darauf, dass es so etwas tatsächlich geben mag. Beispielsweise verhalten sich eineiige Zwillinge bei Spielen, in denen geteilt werden soll, auffallend ähnlich. Darum machen wir gerade Experimente, in denen wir nach den genetischen Grundlagen suchen.
Offenbar sehnen sich nicht allein Menschen nach Fairness. Interessant fand ich neue Versuche mit Hunden. Die weigerten sich, Pfötchen zu geben, wenn sie sehen, dass ein anderer Hund zur Belohnung Hundekuchen erhält, sie selbst aber nicht.
Wir haben Weißbüschelaffen untersucht. Diese kleinen Primaten sind sogar zu einer Art uneigennützigem Verhalten imstande: Sie zeigten sich bereit zu arbeiten, damit ein Artgenosse eine Belohnung bekommt – sogar dann, wenn für sich selbst nichts dabei herausspringt.
Auch Kinder reagieren schon sehr früh auf Ungerechtigkeiten. Wenn ich meiner älteren, fünfjährigen Tochter von einer Reise etwas mitbringe, der kleinen, noch nicht einmal Einjährigen aber nicht, gibt’s Ärger.
Allerdings ist das noch kein voll ausgeprägter Gerechtigkeitssinn. Denn Kleinkinder kümmert vor allem, ob sie selbst zu kurz kommen.
Wie Hunde.
Aber mit ungefähr fünf Jahren beginnt sich beim Menschen der Begriff für Gerechtigkeit zu erweitern. Das fanden wir bei Experimenten heraus, bei denen wir Kindern Gummibärchen und Smarties gaben. Diese konnten sie, wenn sie wollten, mit anderen Kindern teilen. Dabei waren die Empfänger weder im Raum, noch konnten diese sich später bei den Spendern revanchieren. Unter solchen Bedingungen waren Dreijährige kaum bereit, Süßigkeiten herauszurücken. Von den Sechsjährigen dagegen gaben immerhin schon ein Viertel etwas ab. Und von den Achtjährigen teilten 45 Prozent ihre Schätze – eine ähnliche Bereitschaft zu teilen stellt man auch unter Erwachsenen fest.
Was unterscheidet diejenigen, die etwas hergeben, von den Egoisten?
Das wüssten wir auch gerne. Komischerweise scheint die Körpergröße eine Rolle zu spielen – je größer, umso egoistischer. Und je bestimmender ein Kind auftritt, desto weniger gibt es ab. Einzelkinder dagegen teilen zur Überraschung mancher ungewöhnlich viel.
Wenn wir teilen, wird in unserem Gehirn das sogenannte Belohnungssystem aktiv, eine Schaltung, die für Lustgefühle sorgt. Das haben Messungen vor Kurzem gezeigt. Sind Altruisten glücklichere Menschen?
Das könnte gut sein. Bei manchen Menschen reagiert das Belohnungssystem schon dann ungewöhnlich stark, wenn sie nur dabei zusehen, wie an ein anderer etwas bekommt.
Als ob sie sich für den anderen freuten.
Ja. Solche Menschen geben dann auch selbst besonders viel ab.
Nun könnte man vermuten, dass Altruismus glücklich macht. Umgekehrt wäre auch denkbar, dass glückliche Menschen von sich aus selbstloser sind.
Genau das ist das Problem: Wir wissen noch nicht, was Ursache ist und was Wirkung. Darum will meine Institutskollegin Tania Singer es nun mit Methoden versuchen, wie sie der Dalai Lama empfiehlt. Sie möchte Laien in einer buddhistischen Meditation unterweisen, die das Mitgefühl stärken soll, und dann messen, wie sich die Gehirne, das Empfinden und das Verhalten mit der Zeit verändern. Vielleicht hilft uns das weiter.
Die andere Richtung betrachtend, gibt es schon wunderbare Experimente. Die gehen ungefähr so: Ich lasse Sie eine Münze finden. Ihre Stimmung wird danach etwas gehoben sein. Und tatsächlich stellt sich heraus, dass sich Menschen nach solch einem Ereignis regelmäßig als großzügiger und hilfsbereiter erweisen.
Wem Gutes widerfahren ist, der will es weiter geben. Aber wenn es sich so verhält, so fehlt uns doch auch hier, wie so oft, eine rechte Vorstellung davon, was genau dabei in uns passiert.
Generell ist beklagenswert wenig darüber bekannt , wie die äußeren Umstände unser Handeln bestimmen. Würde dieses Rätsel gelöst, so könnten wir möglicherweise Kinder zu mehr Altruismus erziehen.
Die Mechanismen des Altruismus zu verstehen, wäre ein notwendiger erster Schritt – aber leider keine Garantie für ein Gelingen. Denken Sie nur daran, wie viel Mühe Eltern aufwenden, um ihren Kindern Selbstkontrolle anzuerziehen. Manche haben Erfolg, andere Menschen bleiben ihr Leben lang impulsiv. Und dann bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob wir überhaupt allen Menschen einen tiefen Gerechtigkeitssinn einpflanzen sollten.
Warum nicht?
Weil es ein Erfolgsgeheimnis der Marktwirtschaft ist, dass sie bestimmte Vorgänge dem Gerechtigkeitssinn entzieht. Darum messen wir dem Eigentum so hohen Wert bei. Wir haben Stämme in Neu-Guinea untersucht, deren Mitglieder alles, was Sie bekommen, sofort teilen müssen. Ihnen fehlt jeder Anreiz zur Anstrengung. Das Gleichheitsprinzip kann den wirtschaftlichen Fortschritt behindern.
Sie haben die Gepflogenheiten des Teilens in mehr als einem Dutzend verschiedener Stammesgesellschaften der Welt studiert. Ich frage mich, ob sich die Kultur von Sammlern im Urwald Neu-Guineas etwa mit der von mongolischen Hirten überhaupt vergleichen lässt.
Wir ließen überall dasselbe Spiel spielen. Dieses gab uns Aufschluss darüber, wie viel von einem Geschenk die Spieler an andere abzugeben bereit waren und welches Teilungsverhältnis sie als gerecht empfanden. Die Unterschiede waren riesig. Ein Extremfall waren die Machiguenga im peruanischen Regenwald, die so gut wie überhaupt nichts herausrückten. Diese Menschen verhalten sich tatsächlich so, wie es die traditionelle Wirtschaftswissenschaft eigentlich von uns allen erwartet. Das Wirtschaftssystem der Machiguenga ist freilich sehr primitiv.
Der edle Wilde ist ein Mythos.
Oh ja. Wie wir im Gegenteil herausfanden, teilen die Menschen umso bereitwilliger, je mehr sie das Handeln und Tauschen gewohnt sind. Sie wissen, dass sie zu aller Vorteil das eine Mal etwas abgeben müssen, das andere Mal etwas bekommen. Und der Markt hat sie gelehrt, den Wert verschiedener Güter miteinander zu vergleichen.
Das heißt: Selbst wenn uns eine Art Gerechtigkeitssinn angeboren ist, so müssen wir dennoch den Umgang damit trainieren.
Ja. Und Sie können Umgebungen schaffen, die Menschen in ihren altruistischen Anlagen bestärken – oder diese abtöten. Ein Kollege hat zwei Fahrradkurierfirmen verglichen. In der einen bekommen die Leute Stundenlöhne, in der anderen werden sie für geleistete Aufträge bezahlt. Bei einem Experiment ähnlich dem Vertrauensspiel erwiesen sich die Kuriere der Firma mit den Stundenlöhnen als weit altruistischer als ihre Kollegen, die unter Akkord arbeiteten. Anscheinend hatten sich letztere einfach daran gewöhnt, dass jeder sich selbst der Nächste ist.
Haben wir uns nicht alle daran gewöhnt? Dass jeder mit einer angeblich leistungsgerechten Bezahlung angespornt werden soll, sein Bestes zu geben; das war doch das Mantra der letzten zehn Jahre.
Gewiss war es eine Fehlentwicklung, das Geld dermaßen in den Vordergrund zu stellen. Bezahlung ist ein wichtiger Anreiz, aber eben nicht der Einzige. Persönlich glaube ich, dass der Wunsch nach Anerkennung uns viel mehr bewegt, jedenfalls, wenn eine gewisse Summe erreicht ist. Ein Spitzenbanker arbeitet 70 Stunden pro Woche, egal, ob man ihm nun eine halbe Million jährlich dafür bezahlt oder zehn Millionen.
Wir reden hier ja auch die ganze Zeit über Geld. Dabei gibt es viele andere Ausprägungen von Gerechtigkeit – etwa Gleichheit von Chancen oder auch vor einem Gericht. Die spielen in Ihren Untersuchungen kaum eine Rolle.
Leider können wir diese Dimensionen der Gerechtigkeit so schlecht messen. Geldguthaben hingegen lassen sich sehr leicht miteinander vergleichen.
Insofern sind Ihre Experimente wirklich sehr lebensnah: Wir vergleichen ständig, wie viel wir selbst haben und andere. In einer Gesellschaft, die so versessen auf den Kontostand schaut, darf man sich wohl auch über Missgunst nicht wundern.
Ob Ungleichheit das Gerechtigkeitsempfinden verletzt, hängt extrem davon ab, wie sie entstand. Beispielsweise sind Menschen viel eher bereit, ein Geschenk mit anderen zu teilen als ein Gut, das sie sich erarbeitet haben. Am unerträglichsten ist das Gefühl, dass ein anderer einen Vorteil daraus zog, dass er uns hereingelegt hat. Nur um einen vermeintlichen Betrüger zu bestrafen, nehmen Menschen sogar eigene Nachteile in Kauf. Hier ist ein Gedankenexperiment: Jeder Deutsche darf in einen Topf einzahlen, um es jenen Topmanagern, die ihr Unternehmen beinahe in den Ruin führten und sich dabei bereicherten, einmal richtig zu zeigen. Für jeden Euro, den Sie investieren, werden diesen Managern zehn Euro weggenommen und dann verbrannt.
Vermutlich käme in dem Fond eine ordentliche Summe zusammen. Aber man würde sie eher einen Ausdruck der Rache als von Gerechtigkeit nennen.
Rache ist nichts anderes als die dunkle Seite des Gerechtigkeitssinns. Sie ist eine Abwehr gegen die Trittbrettfahrer in der Gemeinschaft. Wie wir in Experimenten zeigen konnten, bricht die Kooperation in einer Gruppe meist sehr schnell zusammen, wenn die Gruppe unter Egoisten leidet. Erst wenn die Gutwilligen die Trittbrettfahrer bestrafen können, wird die Zusammenarbeit stabil.
Wie kamen Sie auf diese Experimente?
In einem Versuch ließen wir einmal sehr viele Arbeitnehmer um sehr wenige Jobs konkurrieren, so dass die Arbeitnehmer sehr niedrige Löhne hinnehmen mussten und schließlich wütend wurden – aber nicht auf die Arbeitgeber, die die Situation ausnutzten, sondern auf die anderen Arbeitnehmer, die die Hungerlöhne akzeptierten und so die Kollegen zwangen, es auch zu tun. Jeder Teilnehmer warf also allen anderen vor, eine Art Streikbrecher zu sein. Da fragten wir uns, wie viel die Menschen wohl darum gäben, andere für ihr unkooperatives Verhalten zu strafen.
Interessant daran ist, dass sich alle Arbeitnehmer das Spiel mitspielen, obwohl sie es ungerecht finden. Offenbar lag Bertolt Brecht richtig: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«
Niemand handelt ohne Rücksicht auf die Kosten altruistisch. Bemerkenswerterweise verhalten sich auch Menschen mit starken Fairnesspräferenzen so, als hätten sie keine. Sie müssen sich nur in einen Unterbietungswettbewerb bringen. Dann handelt jeder wie der perfekte Egoist.
Der einzige Ausweg wäre, dass jemand Vertrauen herstellt. Die Spieler müssen fest daran glauben, dass keiner dem anderen in den Rücken fällt.
Sicher, sie könnten eine Gewerkschaft gründen. Leider verfallen Gemeinschaften auch oft auf hässliche Strategien, um Kooperation zu erzwingen. Im Extremfall kann man den Reichen die Häuser anzünden, wie es einer meiner Kollegen in Russland und der Ukraine beobachtet hat. Dort gingen die Höfe mancher Bauern, die sich etwas Grund zugelegt und elementaren Wohlstand erarbeitet hatten, in Flammen auf – gar kein seltenes Phänomen. Gerechtigkeitsdenken hat immer eine destruktive und eine progressive Seite.
Vielleicht ist der menschliche Hunger nach Gerechtigkeit unstillbar, und wir sind bereit, fast alles dafür zu opfern. Max Frisch wunderte sich einmal darüber, dass alle Revolutionäre der Geschichte den Menschen Gerechtigkeit versprachen, keiner Glück.
Glück ist ein privates, Gerechtigkeit ein öffentliches Gut. Weil Sie als Einzelner etwas für Ihr Wohlergehen tun können, taugt dieses Thema schlecht für Revolutionen. Gerechtigkeit hingegen müssen Sie sich mit anderen erkämpfen.
Wann zerbricht eine Gesellschaft an ihrer Ungerechtigkeit?
Wenn sie an ihrer eigenen Ideologie scheitert. Das Problem ist nicht die Ungleichheit an sich, sondern ob Sie diese rechtfertigen können. Bei uns wurde sie durch Leistung legitimiert. Jahrzehntelang haben die Menschen gehört, dass belohnt wird, wer besonders hart arbeitet oder besondere Fähigkeiten hat, also der Gesellschaft nützt. Nun aber stellt sich heraus, dass gewisse Spitzenmanger ihre riesigen Einkommen kaum wegen ihrer vortrefflichen Leistung bezogen. So etwas kann das Selbstverständnis einer ganze Gesellschaft erschüttern. Wir stecken nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern viel mehr noch in einer moralischen Krise.