Erinnern Sie sich?

Wie unser Gedächtnis funktioniert: Die Heidelberger Neurobiologin Hannah Monyer über wandernde Hirnzellen, eine Kindheit in Siebenbürgen und die Möglichkeit, das Gehirn zu dopen

erschienen im Zeit-Magazin 12/09

 

Unsere Gehirne sind Zeitmaschinen. Es genügt, an die Vergangenheit zu denken, und schon tauchen wir in sie ein. Doch die Erinnerung besteht aus Splittern; irgendwie fügen sich die Bilder, Gerüche, Gefühle von damals wieder zu einem Ganzen. Die Neurobiologin Hannah Monyer erforscht, wie das geschieht. Das Heidelberger Labor der 51-Jährigen genießt Weltruf, und für ihre Arbeiten gewann sie die höchste deutsche Auszeichnung für Wissenschaftler, den Leibniz-Preis.

Manchmal allerdings entführt uns das Gedächtnis in eine Welt, die uns so vertraut und dabei doch so seltsam entrückt vorkommt, als würden wir in ihr nicht die eigene Geschichte, sondern einen Traum wieder erleben. So ging es mir, als ich zum ersten Mal Monyers Stimme hörte. Sie redete in einem eigentümlichen Singsang und rollte das R – die Sprachmelodie meiner lange verstorbenen Großeltern. Wie diese gehört Hannah Monyer einer rumäniendeutschen Volksgruppe an, den Siebenbürger Sachsen, die sich untereinander heute noch eines Dialekts des Mittelhochdeutschen bedienen. So sprachen sie schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts, als ihre Vorfahren Transsylvanien besiedelten.

Monyer geleitete mich in einen kahlen Seminarraum; auf den Tisch stellte sie eine Keksdose. Darin lagen mit Aprikosenmarmelade gefüllte, mürbe Konstruktionen aus Teig, wie ich sie einst in der Küche meiner Großmutter genascht hatte.

Stefan Klein: Frau Professor Monyer, wenn Sie all Ihre Erinnerungen aufgeben müssten und nur eine behalten dürften, welche wäre es wohl?

Hannah Monyer: Nur eine? Also gut: Ich lag unter dem riesigen Apfelbaum im Garten meiner Großeltern im hohen Gras. Ich hörte die Bienen summen, die mein Großvater dort hielt. Ich hatte gerade die Aufnahmeprüfung für eines der beiden besten Gymnasien Rumäniens bestanden; bald würde ich das Dorf meiner Familie für immer verlassen. Da war ich 14 Jahre alt. Ich spürte, dass etwas Besonderes auf mich wartete, dass das Leben begann. Und ich fühlte mich stark. Dieses Gefühl der Ruhe vor dem Aufbruch würde ich gerne für ewig behalten.

Klein: Was haben Sie sich damals von Ihrem Leben erwartet?

Monyer: Eigentlich wusste ich schon immer, dass ich das Gehirn verstehen will. Eines Tages kam ich aus der Volksschule nach Hause und rief: "Mami, sag mir, dass ich Schmerzen empfinde!" Da hatten wir gerade die Nervenbahnen im Rückenmark durchgenommen, und ich hatte begriffen, dass alle meine Empfindungen nur Signale des Gehirns sind. Mit meinen zehn Jahren hat mich das enorm fasziniert. Ich wusste: Um mehr zu erfahren, muss ich Medizin studieren.

Klein: Viele Hirnforscher treibt der Wunsch, sich selbst besser zu verstehen. Sie auch?

Monyer: Zum Teil. Aber wichtiger war dieses Verlangen, als ich noch in der Psychiatrie arbeitete. Das Abnormale zieht uns ja deswegen so an, weil wir uns letztlich selber darin erkennen. Ich war eine glückliche Ärztin. Zur Forschung kam ich durch reinen Zufall, als ich während eines Stipendienjahrs in den USA in ein neurobiologisches Labor gelangte. Da wusste ich: Das ist es. Es gibt diese wunderbare griechische Darstellung von Kairos…

Klein: …dem Gott der Gelegenheit. Auf seinem ansonsten kahlen Kopf trägt er auf der Stirn eine Locke. Da muss man ihn packen, sonst geht er vorüber.

Monyer: Wir glauben, dass wir unser Leben in der Hand haben. Aber in Wirklichkeit können wir nur Gelegenheiten ergreifen.

Klein: Heute erforschen Sie Interneuronen. Was ist das?

Monyer: So etwas wie Taktgeber im Gehirn. An jedem Ihrer Erlebnisse sind manchmal Tausende, manchmal Millionen Neuronen beteiligt. Deren Aktivität muss koordiniert werden. Das erledigen spezielle Gehirnzellen, die Interneuronen. Jedes von ihnen ist mit anderen Zellen mit etwa 15.000 anderen Schaltstellen verknüpft und sorgt dafür, dass das Richtige zur richtigen Zeit geschieht.

Klein: Nur weil dieses Zusammenspiel funktioniert, können wir uns an Szenen aus unserem Leben erinnern.

Monyer: Ja. Als wir an Mäusen diese Zellen lahmlegten, funktionierte auch ihr Gedächtnis nicht mehr. Offenbar sind die Interneuronen nötig dafür, dass aus vielen gespeicherten Einzelinformationen wieder ein Gesamtbild entsteht.

Klein: Sie sind die Dirigenten im Orchester der Erinnerung.

Monyer: So kann man es sagen.

Klein: Was eigentlich bringt uns dazu, uns zu erinnern?

Monyer: Bei vielen Menschen sind Gerüche der stärkste Auslöser für Szenen aus der Vergangenheit. Ich kann nicht an einer frisch gemähten Wiese vorbeigehen, ohne an das Dorf meiner Kindheit zu denken. Noch stärker als dieses wirkt übrigens Bohnerwachs – bei uns zu Hause wurden jeden Samstag die Böden gescheuert.

Klein: Warum gerade Gerüche?

Monyer: Weil dieser Sinn im Gehirn am engsten mit emotionalen Systemen verbunden ist. Es gibt sozusagen eine direkte Nervenbahn von der Nase zur Amygdala, einer Struktur im Gehirn, die Emotionen auslöst. Und aus gutem Grund: Welche Nahrung wir uns einverleiben, entscheiden wir vor allem über den Geruch. Auch die Partnerwahl treffen die meisten Tiere mit der Nase. Für uns Menschen ist es zwar etwas weniger wichtig, wie gut wir jemanden riechen können, aber wir tragen dieses Erbe in uns. Der Riechkolben ist denn auch einer der ganz wenigen Teile des Gehirns, in denen das ganze Leben lang graue Zellen nachgebildet werden. Und wie wir vor Kurzem festgestellt haben, wandern neu gebildete Interneuronen vom Riechkolben in andere Regionen im Kopf – wie auf Ameisenstraßen.

Klein: Ein Jungbrunnen im Gehirn?

Monyer: Danach sieht es aus. Sicher haben auch diese Vorgänge etwas mit dem Erinnerungsvermögen zu tun. Aber Genaueres wissen wir noch nicht.

Klein: Sie arbeiten an Mäusen, die Sie genmanipulieren, um bestimmte Hirnstrukturen gezielt zu verändern.

Monyer: Das ist der erste Schritt. Im zweiten untersuchen wir die Hirnströme und das Verhalten dieser Tiere. So bekommen wir Aufschluss darüber, wozu die betreffenden Systeme im Gehirn zuständig sind.

Klein: Was aber lässt Sie annehmen, dass diese Tiere sich erinnern wie wir? Vielleicht fügen sich die gespeicherten Informationen im Kopf der Maus keineswegs zu einem Film aus der Vergangenheit wie bei uns.

Monyer: Darüber lässt sich nur spekulieren – wir können die Maus ja nicht fragen, wie sie ihre Erinnerungen erlebt.

Klein: Noch nicht einmal, ob die Tiere Gefühle empfinden, ist klar.

Monyer: Nein. Trotzdem sind die grundlegenden Vorgänge bei Mäusen und Menschen dieselben: Im Spiel sind die gleichen Moleküle, die gleichen Netzwerke des Gehirns. Nur kommt bei uns eben eines hinzu, worüber wir bei den Mäusen nichts wissen – ein subjektives Erleben.

Klein: Meinen Sie, dass man eines Tages in der Lage sein wird, auch das subjektive Erleben mit der Wirkung von Molekülen und Hirnstrukturen zu erklären?

Monyer: Ja. Nur werde ich es nicht mehr erleben. Aber die Kunst und vor allem die schöne Literatur bieten uns einen anderen, nicht minder wertvollen Zugang, um unseren Geist zu verstehen.

Klein: Sie haben nicht etwa in Molekularbiologie promoviert, sondern über die Eifersucht in Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit", der wohl bedeutendsten literarischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Erinnerung.

Monyer: Nun, ich interessierte mich damals dafür, wie Künstler Krankheiten sehen. Bis heute kann ich keine Gemäldegalerie besuchen, ohne den gemalten Figuren Diagnosen zu stellen.

Klein: Im ersten Kapitel der "Suche nach der verlorenen Zeit" gibt es die berühmte Stelle, wo der Erzähler eine Tasse Lindenblütentee trinkt und eine Madeleine dazu isst, wie einst in seiner Kindheit. Das Aroma des Tees setzt dann eine Kette von Erinnerungen in Gang, in der die ganze Kindheit wieder lebendig wird. Proust schreibt von einem "unglaublichen Glücksgefühl" in diesem Moment. Ich habe mich darüber immer gewundert. Denn die Kindheit, die dem Erzähler nun wieder gegenwärtig wird, war alles andere als glücklich.

Monyer: Ich glaube nicht, dass Proust das Glück meint, sich zu erinnern. Vielmehr spricht er von der Freude, ein Prinzip erkannt zu haben: Durch die zufällige Wiederbegegnung mit dem Lindenblütentee hat sich ihm offenbart, wie die Erinnerung selbst funktioniert. Er vergleicht das mit Origami, gefalteten japanischen Papieren. Wenn man sie ins Wasser wirft, dann entfalten sie sich, und ganze Landschaften werden daraus: Eine Welt tut sich auf. Genauso ist es, wenn Ihnen im Labor, meist ebenfalls durch Zufall, eine wichtige Entdeckung gelingt. Da stellt sich ein phänomenales Glücksgefühl ein – wie in einer ganz großen Liebe. Solche Erfahrungen sind uns nur wenige Male im ganzen Leben vergönnt.

Klein: Die Euphorie bei einer Entdeckung mögen ein Romancier und eine Wissenschaftlerin ähnlich erleben, aber der Weg dorthin ist sehr verschieden. Sie stellen Versuche an, die von jedem wiederholbar sein müssen. Ihre Person bleibt außen vor. Proust dagegen beschreibt eine innere Welt aus seiner ganz persönlichen Sicht.

Monyer: Ja, aber auch wenn seine Erzählung subjektiv gefärbt ist, spricht er eine Wahrheit aus, die für uns alle gilt. Wir lesen ihn, weil er etwas in uns zum Klingen bringt. Keiner würde sich für einen Autor interessieren, erschiene uns das, was er schreibt, nicht nachvollziehbar wie ein wissenschaftlicher Versuch.

Klein: Proust hat entdeckt, dass ein winziger Auslöser genügen kann, um eine verloren geglaubte Vergangenheit wieder lebendig zu machen. Er nennt Gerüche und Geschmackswahrnehmungen als die wichtigsten Auslöser. Bei mir ist es häufig die Musik.

Monyer: Natürlich. Auch Töne rühren uns ja häufig im Innersten an. Bald nachdem ich von Rumänien nach Deutschland gekommen war, hörte ich zufällig eine Sinfonie von George Enescu…

Klein: …dem hier ziemlich selten gespielten rumänischen Komponisten.

Monyer: Ich brach sofort in Tränen aus. Dabei habe ich als Kind kaum jemals geweint. Es sind nur die Erinnerungen, die diese Trauer auslösen.

Klein: Weil Sie an die zurückgelassene Heimat denken?

Monyer: Ja. Und je älter man wird, umso mehr beschäftigt man sich mit den Erinnerungen. In der Jugend sind sie einem fast egal. Nun aber habe ich mit 51 Jahren ein Alter erreicht, in dem man auch zurückschaut.

Klein: Sie haben Rumänien 1975 verlassen, Sie waren damals 17 Jahre alt. Bedrückte Sie Ceau?escus Regime?

Monyer: Nein, ich war glücklich. Ich war auf einer tollen Schule, hatte großartige Lehrer. Aber ich sah keine Zukunft für mich. Nicht einmal Fachärztin hätte ich werden können, denn der Weg zur Spezialisierung war verbaut. An Kongresse im Ausland war gar nicht zu denken.

Klein: Sie müssen schon damals sehr ehrgeizig gewesen sein.

Monyer: Ich habe immer an meine Begabung geglaubt. Und ich wusste genau, dass ich nach Heidelberg wollte. Ich malte mir aus, dass die Universitätsstadt so ein deutsches Oxford sein müsste – eine Hochburg der Intellektualität. Also beantragte ich einen Pass für eine Ferienreise nach Deutschland. Ich gab an, ich wolle einmal das Land sehen, aus dem meine Vorfahren vor 700 Jahren ausgewandert waren. Nicht einmal meinen Eltern habe ich verraten, dass ich dort bleiben wollte. Einzig mein Bruder wusste es.

Klein: Empfanden Sie Ihr Handeln als grausam Ihrer Familie gegenüber – und sich selbst gegenüber?

Monyer: Es war eine reine Vernunftentscheidung. Ich dachte, meine Eltern würden mich schon verstehen. Nach ein paar Jahren mit einem deutschen Pass würde ich sie ja bald wieder besuchen können.

Klein: Hatten Sie nie Heimweh?

Monyer: Doch, immer. Aber so richtig schlimm wurde es erst, als ich vor 13 Jahren ein Treffen meiner Abiturklasse besuchte. Denn da merkte ich: Das Land, das ich kannte, gibt es längst nicht mehr.

Klein: Die Siebenbürger, die Nicolae Ceau?escus Regime ausgehalten haben, sind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland geströmt. Nur noch ein paar Alte blieben zurück.

Monyer: Ich habe auf dieser Reise eine unserer großen Kirchen nach der anderen besucht. Ich bin gar nicht gläubig, aber früher habe ich wahnsinnig gern in der Kirche gesungen. Und acht Jahrhunderte lang waren diese Kirchen ein Mittelpunkt unserer Kultur. Jetzt stehen sie leer. Natürlich sind auch andere und größere Kulturen untergegangen. Aber es ist trotzdem etwas Besonderes an dieser Minderheit, die sich so lange dort behauptet hat. Etwa hatten die Siebenbürger Sachsen eine siebenjährige Schulpflicht für alle Bürger eingeführt – früher als irgendwo sonst in Europa.

Klein: Mein Vater kommt ebenfalls aus Siebenbürgen. Vor ein paar Jahren habe ich die Kleinstadt Schäßburg, das heutige Sighi?oara, besucht. Dort begriff ich, wie viel die Gelehrsamkeit dem Volk meiner Vorfahren bedeutete: Das Gymnasium thront auf einem Hügel hoch über der Stadt, wie ein Heiligtum. Und damit man trockenen Fußes dorthin gelangt, haben sie eine überdachte Treppe gebaut.

Monyer: Schon als junges Mädchen habe ich mein ganzes Taschengeld für Bücher ausgegeben. Aber ich hatte das Glück, zu einer Zeit dort zu leben, als sich die deutschsprachige Minderheit gegenüber den Rumänen nicht mehr abschottete. Die Zwanghaftigkeit der Siebenbürger Sachsen konnte einen ja auch in den Wahnsinn treiben. Die Leichtigkeit, das Extrovertierte – das alles habe ich von den Rumänen mitbekommen. Es waren meine besten Jahre. Auch dieses Zusammenleben der Kulturen gibt es nicht mehr. Entschuldigen Sie bitte.

Klein: Was lässt Ihnen jetzt die Tränen kommen?

Monyer: Am Ende haben wir alle, die wir gegangen sind, dann doch versagt. Heute noch einmal vor die Wahl gestellt und wissend, dass Hoffnung auf Veränderung besteht, würden sich viele sicher anders entscheiden.

Klein: Für mich war dieses Land nie etwas anderes als Erinnerung – aber Erinnerung aus zweiter Hand. In meiner Familie war ständig von "zu Hause" die Rede. Meine Verwandten verklärten das Land, aus dem sie stammten. Aber als ich es mit eigenen Augen sehen wollte, weigerte sich mein Vater, mit uns hinzufahren. Er sagte, er wolle sich seine Erinnerungen nicht zerstören.

Monyer: Verstehe ich gut. Meine Mutter, die jetzt in Deutschland lebt, ist seit vielen Jahren auch nicht mehr hingefahren.

Klein: Kann man Erinnerungen zerstören?

Monyer: Nein. Aber die Begegnung mit einer Wirklichkeit, die ganz anders ist als die Erinnerung, kann sehr schmerzhaft sein.

Klein: So habe ich die Gegend, aus der meine Vorfahren stammen, erst mit Mitte 30 kennengelernt. Und wissen Sie was: Auf den ersten Blick fand ich tatsächlich das Märchenland, von dem ich so viele Erzählungen gehört hatte. Wir wanderten durch riesige Buchenwälder und blühende Obstbaumwiesen, durch mittelalterliche Städte und Dörfer, in denen die Gänse auf der Straße herumlaufen. Vielleicht verändern Erinnerungen sogar dann den Blick auf die Welt, wenn es gar nicht die eigenen sind.

Monyer: Die Dörfer sind wunderschön. Aber Sie haben recht: Wir können die Wirklichkeit gar nicht anders als getönt von der Erinnerung wahrnehmen. Alle Signale nämlich, die neu in den Kopf kommen, werden sofort verglichen mit den schon gespeicherten Informationen. Daran liegt es nicht zuletzt, dass wir uns immer schwerer für etwas begeistern, je älter wir werden. Wann waren Sie zuletzt hingerissen von einem Besuch im Kino? Verglichen mit früher, sind die Filme eher besser geworden. Nur haben wir alle schon so unglaublich viele davon gesehen.

Klein: Erinnerungen, selbst wenn sie schön sind, können auch eine Last sein.

Monyer: Gewiss.

Klein: Erinnern und Erleben ist, physiologisch betrachtet, beinahe dasselbe. Denn so etwas wie ein Organ namens Gedächtnis im Gehirn gibt es gar nicht. Dieselben Netzwerke von Neuronen, die die gegenwärtigen Sinneseindrücke verarbeiten, speichern auch die Eindrücke aus der Vergangenheit.

Monyer: So ist es. Allerdings verstehen wir noch nicht genau, wie diese Langzeiterinnerungen angelegt werden. Die Mechanismen sind andere, als wenn Sie nur eine Telefonnummer für ein paar Minuten im Kurzzeitgedächtnis behalten. Da werden im Wesentlichen die Verbindungen zwischen bestimmten Neuronen verstärkt. Wenn wir uns etwas für den Rest unseres Lebens merken, spielt möglicherweise auch die Neugeburt von Neuronen eine wichtige Rolle.

Klein: Doch zweifellos verändert jede Erinnerung die Struktur unseres Gehirns. Diese Einsicht brachte den amerikanischen Kognitionspsychologen Daniel Schacter zu der Behauptung: "Wir sind Erinnerung." Geben Sie ihm recht?

Monyer: Jedenfalls halte ich es so: Am liebsten verschenke ich Reisen. Dass letztlich unsere ganze Lebensgeschichte in das Gehirn eingeschrieben ist, erklärt vielleicht auch die tiefe Angst, die viele Menschen vor der Hirnforschung haben.

Klein: Weil sie fürchten, ihre Geheimnisse zu verlieren?

Monyer: Weil sie fürchten, alles, was das eigene Leben ausmacht, könnte unter fremde Kontrolle geraten. Daran glaube ich nicht. Selbst wenn wir jedes Detail in einem Gehirn verstehen, kennen wir damit noch nicht das Ganze. Und weil jeder eine ganz eigene Lebensgeschichte hat, sind auch die Netzwerke im Gehirn bei jeder Person anders verknüpft. Die Menschen werden geheimnisvoll bleiben.

Klein: In dem Science-Fiction-Film "Total Recall" spielt Arnold Schwarzenegger einen Mann, der sich künstliche Erinnerungen an Erlebnisse einpflanzen lässt, die er in Wirklichkeit nie gehabt hat. Können Sie sich vorstellen, dass so etwas einmal möglich sein wird?

Monyer: Durchaus. Eine andere Frage ist natürlich, ob es wünschenswert wäre. Aber diese Möglichkeit ist so weit entfernt, dass ich mir ehrlich gesagt darüber keine Gedanken mache. Mir genügt es, das Gehirn so zu verstehen, wie es ist.

Klein: Nehmen wir eine näherliegende Manipulation des Gehirns: Nach einer Umfrage der renommierten Fachzeitschrift "Nature" nehmen 25 Prozent der befragten Naturwissenschaftler Medikamente einzig mit dem Ziel ein, geistig leistungsfähiger zu werden. Würden Sie Ihr Gehirn mit solchen Mitteln dopen?

Monyer: Nein. Weil ich nicht weiß, was mir das bringen sollte. Selbst bei sehr weitgehenden Manipulationen gelingt es fast nie, die Merkfähigkeit und andere Fähigkeiten des Gehirns wirklich zu steigern. Wir können unsere Mäuse genetisch manipulieren, wie wir wollen – es kommen doch immer beschränktere Tiere dabei heraus, als die Natur sie zu bieten hat. Gegen Jahrmillionen natürlicher Selektion kommen wir nicht so leicht an. Würden Sie so etwas tun?

Klein: Ich habe einmal einen Nachmittag mit dem amerikanischen Chemiker Alexander Shulgin verbracht. Er hat als Erster die Droge Ecstasy synthetisiert und tut es noch. Hinterher ärgerte ich mich, dass ich ihn nicht um ein, zwei Pillen gebeten habe. Gewiss hätte ich erstklassige Ware bekommen.

Monyer: Vielleicht fürchte ich in Wirklichkeit auch den Verlust der Kontrolle. Aber wenn schon, dann würde mich ein Versuch mit Meditation viel mehr interessieren. Ich bin ja ein unruhiger Mensch. Wenn ich morgens durch den Wald gehe, nehme ich mir vor, jetzt für fünf Minuten nur die Bäume wahrzunehmen und einmal nicht an die Arbeit zu denken. Es gelingt mir nicht.

Klein: Gibt es Tage, an denen Sie Ihr Labor verfluchen?

Monyer: Jeder, der mit dieser Intensität arbeitet, muss dafür auf vieles verzichten. Andere Menschen führen ein reicheres Sozialleben als ich, und sie haben eine Familie. Ich habe keine Kinder bekommen, weil ich nicht gesehen habe, wo sie Platz finden sollten in meinem Leben. Darin lag für mich der größte Verzicht. Rückblickend denke ich, es wäre gegangen. Darum bestärke ich junge Kolleginnen, es einfach zu wagen. Sie haben es aber auch leichter, in den letzten 20 Jahren hat sich viel getan.

Klein: Viele, die sich so sehr einer einzigen Sache verschreiben, hoffen auf Ruhm.

Monyer: Der ist eine Illusion. In Wirklichkeit spielt das Individuum in unserer Wissenschaft keine Rolle. Die Experimente tragen keinerlei persönliche Handschrift. Und wenn ich sie nicht anstelle, macht sie ein paar Monate später ein anderer. Auf der letzten Jahreskonferenz der amerikanischen Society for Neuroscience haben sich 40.000 Kollegen versammelt! Da zählt der Einzelne nicht.

Klein: Was gibt Ihnen die Forschung denn dann?

Monyer: Die schönsten Momente im Leben. Wenn mir ein Mitarbeiter ein Ergebnis mitteilt, auf das ich Monate, teils Jahre gewartet habe, und sich plötzlich wie in einem Puzzle die Zusammenhänge ergeben, dann kann ich mich selbst völlig vergessen. Man hält kurz inne, denkt nur noch an diese eine Sache und nicht schon wieder an die nächste, spürt nur ein tiefes Verbundensein mit der Welt. Auch die Erinnerung spielt keine Rolle mehr. Das ist ein beinahe mystisches Erlebnis – für ein paar Augenblicke ganz Gegenwart sein.