Der Wespenversteher
Wer Wespen beobachtet, sagt der Verhaltensforscher Raghavendra Gadagkar, kann viel lernen: Über Männer, Frauen und Moral.
erschienen im Zeit-Magazin 08/09
Sie leben mit Ihrem Forschungsobjekten zusammen. Es heißt, Ihr ganzes Haus sei voller Wespennester. Was sagt denn Ihre Familie dazu?
Wir haben das Haus sogar nach meinen Wespen »Ropalidia« benannt. Die Tiere gehören einfach zu meinem Leben. Wenn ich verreist bin, kümmert sich meine Frau um sie. Und als unser Sohn zum ersten Mal bewusst mitbekam, dass er gestochen wurde, war er begeistert – da fühlte er sich wie ein erwachsener Mann.
Und wie oft wurden Sie selber gestochen?
Sehr oft. Heute immerhin etwas seltener als früher, weil meine Studenten den meisten Umgang mit den Tieren pflegen. Solange sie sich allerdings auf die Tiere konzentrieren, passiert ihnen gar nichts. Wespen stechen nur, wenn die Studenten mit den Gedanken woanders sind – zum Beispiel, wenn sie eine unachtsame Bewegung machen.
Jede einzelne Wespe in Ihren Kolonien ist mit winzigen Farbpunkten markiert. Betäuben Sie die Tiere, um die aufzumalen?
Ach was. Sie müssen nur geduldig neben dem Nest warten, bis das Tier mit etwas beschäftigt ist und wegschaut, dann können sie ihm mit dem Zahnstocher den Brustkorb bemalen.
Wie kamen Sie dazu, sich mit den Wespen zu beschäftigen?
Mit einem Hobby. Als ich studierte, war unser ganzes Institut voller Wespen. Sie hausten wirklich überall! So begann ich, die Tiere zu beobachten. Ich las viel über sie und veröffentlichte am Ende sogar ein paar Forschungsarbeiten. Aber meine Doktorarbeit habe ich in Molekularbiologie gemacht. Um diese Karriere fortzusetzen, hätte ich allerdings Indien verlassen und in die USA gehen müssen. Das wollte ich nicht, unsere Kultur hätte mir zu sehr gefehlt. Also entschied ich mich, das Hobby zum Beruf zu machen und in die Verhaltensforschung zu gehen. Ich habe es nie bereut.
Was finden Sie so spannend an diesen Insekten?
Ich betrachte sie wie ein Anthropologe eine fremde Kultur. Wir haben unser eigenes Zusammenleben im Kopf und begreifen nicht, dass eine andere Gesellschaft ganz verschieden sein kann – manchmal aber auch überraschend ähnlich. Die Tiere halten uns einen Spiegel vor.
Mir erscheinen Wespen sehr weit von uns Menschen entfernt.
Wissen Sie, wenn Sie ihnen lange genug zusehen, dann erkennen Sie, dass Wespen eine Persönlichkeit haben. Jede reagiert unterschiedlich, hat ihre eigenen Stärken und Schwächen – und scheint diese sogar zu kennen. Jedenfalls sucht sich jedes Individuum einen Platz in der Gesellschaft, der zu seinen Fähigkeiten passt. Das zu beobachten, ist faszinierend: Da gibt es Wettstreit und Zusammenarbeit wie in einer menschlichen Gesellschaft.
»So etwas wie ‚die Gesellschaft‘ gibt es nicht«, hat Margret Thatcher, die ehemalige britische Premierministerin, einmal erklärt. Es gebe nur Individuen. Jeder müsse für sich selbst sorgen.
Da hat sie sich sehr geirrt. Die eiserne Lady hätte sich einmal eine Wespenkolonie ansehen sollen.
Thatcher hätte sich auf Charles Darwin berufen können. Er behauptete, dass jedes Geschöpf mit jedem um Ressourcen und die besten Fortpflanzungschancen ringt.
Ja, aber Darwin war sich eines großen Paradoxons in seiner Lehre bewusst. So etwas wie einen Bienenstich dürfte es nach Darwins Auffassung der Evolutionstheorie nicht geben. Dass eine Biene stirbt, wenn sie zusticht, und es trotzdem tut, hat ihn sehr verwirrt.
Die Biene begeht Harakiri für ihre Verwandten. So leben immerhin die Gene fort, die sie mit ihren Schwestern teilt.
Das ist, wie wir heute wissen, die Erklärung: Die Evolutionstheorie trifft zu, doch man muss sie auf genetische Verwandtschaft erweitern. Deshalb verzichten auch die miteinander verwandten Arbeiterinnen unter meinen Wespen darauf, selbst Kinder zu haben. Stattdessen sorgen sie alle für eine unter ihnen, die Königin, die sich als einzige vermehrt.
Wie entscheidet sich, wer Königin wird?
Zur Königin der Bienen oder auch der europäischen Wespen wird man geboren. Meine Wespen sind viel interessanter: Da kann im Prinzip jedes Weibchen als Königin seinen eigenen Staat gründen. Aber nur die Tiere, die besonders fruchtbar sind, tun es. Alle anderen unterwerfen sich und ziehen lieber den Nachwuchs der Königin auf. Weil die Königin in der Regel mit allen im Nest verwandt ist, werden die eigenen Gene auch so weitergegeben – und sogar zuverlässiger, als wenn jede Arbeiterin selbst Kinder bekäme. Irgendwie scheinen die Tiere das zu wissen. Aber woher? Diese Frage treibt mich seit 25 Jahren um.
Eine perfekt sozialistische Gesellschaft: Selbst die Fortpflanzung ist kollektiviert. Die 68er hätten an Ihren Wespen helle Freude gehabt.
Und dann auch wieder nicht. Denn sobald ein Tier den Status der Königin erreicht hat, verteilt es im Nest chemische Substanzen, Pheromone, die den Sexualtrieb aller anderen unterdrücken.
Die Königin herrscht, indem sie ihr Gefolge mit Drogen ruhig stellt.
Man kann es so sagen. Aber sobald ihre Fruchtbarkeit nachlässt, wird sie zugunsten einer anderen Königin entmachtet. Die Tiere beugen sich nur dann einer Herrscherin und kooperieren miteinander, wenn es ihnen selbst nützt.
Von den Männern in der Wespengesellschaft war noch gar nicht die Rede.
Sie lassen sich von den Weibchen großziehen, führen ein kurzes nomadisches Leben, haben Sex und sterben. Für die Gemeinschaft arbeiten sie nie. Wir fragten uns, warum nicht. Unsere Experimente zeigten, dass die Wespenmännchen, die Drohnen, sehr wohl zur Larvenaufzucht beitragen könnten, so lange sie im Nest sind. Aber sie tun es nicht, weil die Weibchen den Job viel besser erledigen. Im Grunde sind die Männer überflüssig.
Wie eigentlich überall in der Natur, nicht wahr?
Ja. Bei den Wespen, auch bei den Bienen und den Ameisen sieht man es überdeutlich: Da werden Männer nicht einmal zur Fortpflanzung unbedingt gebraucht. Die Söhne der Königin schlüpfen aus unbefruchteten Eiern. Nur um Töchter zu bekommen, müssen sich die Königinnen einmal begatten lassen. Sie nehmen das Sperma dann in ein Täschchen in ihrem Leib auf, wo es frisch bleibt und bei Bedarf verwendet werden kann. Die Königin hat also völlige Kontrolle darüber, ob sie Söhne oder Töchter haben will!
Die Königin könnte doch auch den weiblichen Nachwuchs aus unbefruchteten Eiern herstellen. Dann könnten sich die Tiere die Aufzucht von Männchen ganz sparen. Warum gibt es überhaupt Sex?
Das ist eines der Rätsel der Evolutionstheorie: Eine nur aus Weibchen bestehende Art könnte sich mit dem halben Aufwand fortpflanzen – ein gewaltiger Vorteil. Sie wäre aber auch anfälliger gegen Krankheitserreger. Diese Parasiten werden bei ihrem Werk dadurch gebremst, dass die geschlechtliche Vermehrung die Gene ihrer Wirte immer wieder neu mischt?…
…?was bei Ihren Wespen aber nur teilweise geschieht.
Sämtliche Drohnen einer Kolonie gleichen ja genetisch ihrer Mutter, der Königin. Folglich sind auch die Nachkommen viel enger miteinander verwandt als bei anderen Tiere.
Das würde die extreme Kooperationsbereitschaft erklären. Alle Wohltaten bleiben in der Familie.
So hat man es sich lange erklärt. Aber wir konnten zeigen, dass die Dinge so einfach nicht liegen. Beispielsweise haben wir zwei Wespenvölker miteinander vereinigt. Wie erwartet rissen die ansässigen Arbeiterinnen die fremde Königin in Stücke. Deren Gefolge aber, die jungen Arbeiterinnen, wurden anstandslos in die Kolonie aufgenommen. Sie stellten sogar die nächste Königin. Nun waren die Tiere im Nest also gar nicht mehr alle miteinander verwandt und arbeiteten trotzdem zusammen.
Was allen Beteiligten besser bekam.
Eben das ist der Punkt. Viel wichtiger als die Verwandtschaftsbeziehungen ist, ob Kooperation jedem Individuum mehr nützt, als sie kostet. Das hängt von den äußeren Bedingungen ab. Solange die Lebensumstände entspannt sind, machen sich zum Beispiel ziemlich viele Wespen selbstständig und gründen ihren eigenen Staat. Ist dagegen das Futter knapp und die Kolonie von Fressfeinden bedroht, sind viel mehr Tiere zur Hingabe an das Gemeinwesen bereit.
Die Hilfsbereitschaft unter den Londonern soll nie so groß gewesen sein wie zu der Zeit, als die deutsche Luftwaffe die Stadt bombardierte. Ähnliches berichtet man aus New York von den Tagen nach dem 11. September. Die Soziobiologie behauptet, menschliches Verhalten folge denselben Gesetzen wie das Ihrer Insekten.
Selbstverständlich gilt die Abwägung von Kosten und Nutzen des Altruismus auch für uns. Nur ist diese Abwägung bei unserer Art sehr viel komplizierter. Anders als Insekten sind wir nicht nur von der Natur, sondern auch stark von kulturellen Werten bestimmt.
In unserer westlichen Kultur ist die Vorstellung verbreitet, der Mensch sei von Natur aus rein eigennützig. Erst die Erziehung mache ihn zu einem moralischen Wesen, das bereit ist zu teilen.
Viel mehr als auf die gepredigte Moral kommt es auf die Bedingungen an, unter denen wir leben. Je geringer der Aufwand ist, je höher der Gewinn, je enger die Verwandtschaft, umso eher werden Tiere wie Menschen bereit sein, sich für andere einzusetzen. Wenn beispielsweise der Altersunterschied zwischen Geschwistern groß ist, kostet es den Älteren wenig Mühe, etwas für den Jüngeren zu tun und damit viel zu bewirken. Bei einem kleineren Abstand an Jahren ist das Verhältnis nicht so günstig, folglich sind die Geschwister auch zu weniger Einsatz füreinander bereit. In unseren indischen Großfamilien beobachten Sie diesen Effekt ständig.
Aber eine Gesellschaft ist keine große Familie. Da nicht jeder von uns mit jedem verwandt ist, sind wir viel weniger zu teilen bereit.
Nur haben wir ja gezeigt, dass selbst unter Wespen Verwandtschaft nur als ein Faktor unter mehreren die Bereitschaft zur Kooperation bestimmt. Und es gibt Hinweise darauf, dass diese Gesetze von den Insekten über Vögel bis hin zu Säugetieren und Menschen gelten. Wenn Sie also wollen, dass Menschen kooperieren, müssen Sie die Umwelt entsprechend einrichten. Altruismus darf nicht zu viel kosten und muss etwas bringen.
Kann biologische Forschung uns sagen, wie wir leben sollen?
Nein. Aber sie kann uns helfen, eine bestimmte Lebensweise, die wir uns wünschen, zu ermöglichen. Insektengesellschaften haben zwar den Vorteil, dass Sie mit ihnen ziemlich einfach experimentieren können. Seit ein paar Jahren wird jedoch auch erforscht, welches die besten Strategien sind, um Menschen zur fairen Zusammenarbeit zu bringen. Biologen, Psychologen, Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler ziehen an einem Strang, um so etwas wie eine Wissenschaft der Kooperation zu entwickeln. Das macht mir großen Mut.
Was kommt dabei heraus?
Zum Beispiel, wie mächtig unter Menschen aller Kulturen die Abneigung gegen Zeitgenossen ist, die andere ausnutzen. Die meisten von uns sind bereit, solche Trittbrettfahrer sogar dann zu bestrafen, wenn sie erstens selbst von der Mogelei gar nicht betroffen sind und zweitens für die Bestrafung auch noch persönliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.
Offenbar hat sich ein solcher Gerechtigkeitssinn evolutionär durchgesetzt, weil er jedem einzelnen langfristig nützt – selbst wenn er kurzfristig draufzahlen sollte.
Jedenfalls scheint es sich um eine sehr wirkungsvolle Strategie zu handeln. Gerade die größten Egoisten sind ja auf die Gemeinschaft angewiesen – sie wollen mehr von ihr, als sie geben. Manche Kollegen glauben sogar, dass wir Menschen nicht so sehr deswegen kooperieren, weil wir einen sonderlichen Drang dazu empfinden, sondern vielmehr, weil wir nicht als Schlawiner dastehen wollen.
In Ihrer Kultur spielt das Kollektiv eine viel größere Rolle als bei uns individualistischen Westlern. Hilft ein indischer Blick, das Funktionieren von Gemeinschaften zu verstehen?
Unsere Gesellschaft ist überaus komplex. Vielleicht hat dieser Hintergrund mein Interesse an sozialen Insekten überhaupt erst geweckt. Die Arbeitsteilung und das Zusammenleben verschiedener Generationen in einem Wespennest sind überaus delikat geregelt – ganz ähnlich wie in unserer Gesellschaft. Und die Verwandtschaftsverhältnisse in der Kolonie sind noch verzwickter als in jedem indischen Klan.
Ihr Kollege, der amerikanische Evolutionsbiologe Richard Lewontin, sprach von den »tiefsitzenden Vorurteilen, die die Ergebnisse eines jedes Wissenschaftlers prägen«. Welche sind die Ihren?
Ist es schlimm, wenn Forscher Vorurteile haben? Starke Meinungen geben die Energie, unbeirrt in eine bestimmte Richtung zu gehen.
Aber wenn jemand zum Beispiel glaubt, dass das Leben auf der Erde entstand, indem Samen aus dem Weltraum auf unseren Planeten regneten?…
…?dann lasst ihn machen! Wenn sich herausstellen sollte, dass er wirklich Recht hat, sind alle klüger geworden. Und wenn er auf die Nase fällt, auch. Es ist übrigens leichter, eigenen Weg zu gehen, wenn man nicht in Harvard oder Oxford oder auch Berlin arbeitet, sondern irgendwo an der Peripherie.
In Bangalore.
Genau. Da werden Sie weniger beäugt, und Ihre Freiheiten sind größer.
Sie sind davon überzeugt, dass man Ihren Wespen Intelligenz und sogar eine bestimmte Form von Bewusstsein zusprechen muss?
Sicherlich lassen sich Intelligenz und Bewusstsein so definieren, dass Insekten automatisch außen vor bleiben. Aber solche Sprachregelungen interessieren mich nicht. Denn es ist klar, dass Wespen nicht einfach Roboter sind. Sie lernen, und ihr Verhalten ist nicht einfach vorhersagbar.
Was lernen sie denn?
Wo ihre eigenen Stärken und Schwächen liegen – zum Beispiel, wie erfolgreich sie beim Futtersammeln sind. Man könnte sagen, sie kennen ihre eigene Persönlichkeit.
Aber bedeutet dies schon Intelligenz, gar Bewusstsein?
In Ansätzen, ja. Sie können nicht eine scharfe Linie ziehen zwischen vernunftbegabten Geschöpfen hier und rein vom Instinkt gesteuerten dort. Die Übergänge sind fließend.
Einen der Vorfälle, die Sie aus Ihren Wespennestern berichten, finde ich besonders merkwürdig. Es war eine Art Rebellion: Eine Gruppe von Arbeiterinnen stellt die Zusammenarbeit mit der Königin ein, bestimmt eine Anführerin aus ihrer Mitte und gründet ein paar Tage später einen neue Kolonie – als hätten sie einander abgesprochen.
So war es. Wir wissen nicht, wie diese Entscheidung entstand. Offenbar haben die Wespen Mittel der Kommunikation, die uns noch ganz unbekannt sind. Eine Vermutung ist, dass sie über Ihren Speichel Informationen austauschen. Die Arbeiterinnen berühren, umsorgen und füttern einander nämlich unablässig.
Dass Ihre Sprache die Zusammensetzung des Speichels sein könnte, finde ich erstaunlich genug. Doch die Abspaltung, die Sie beschreiben, bedeutet, dass die Tiere ihr Verhalten Tage im Voraus geplant haben müssen. Das erscheint mir unglaublich.
Gewiss, diesen Schluss muss man ziehen. Tiere sind zu deutlich mehr in der Lage, als wir heute verstehen. Dass wir sie fortwährend unterschätzen, hängt damit zusammen, dass wir uns von ihnen isoliert haben. In der modernen Gesellschaft sind Tiere uns so fremd geworden, dass wir vergessen haben, wie viele Arten uns Menschen auf einzelnen Gebieten überlegen sind. Wir haben den Respekt vor der Natur verloren.
Gehen Sie gerne in den Zoo?
Nein. Ich fühle mich in Gegenwart von Tieren in Gefangenschaft nicht sonderlich wohl. Viel lieber als einen Löwen oder Menschenaffen hinter Gittern beobachte ich eine Wespe – selbst wenn diese nicht einer sozialen Art angehört. Selbst bei solch scheinbar unspektakulären Geschöpfen ist so viel zu sehen: Wie das einsame Tier Schlamm holt, ihn mit seinem Speichel vermischt und daraus ein Nest baut; wie es dann eine Raupe holt, sie in den Schlamm legt und mit ihrem Stich betäubt; wie es das Nest mit Eiern füllt und es verschließt?… Man kann ein ganzes Leben lang zuschauen und würde doch immer wieder Neues entdecken.
Die moderne Biologie verdanken wir einzig der Hingabe eines Mannes, genau hinzusehen. Charles Darwin muss ein phänomenal genauer Beobachter gewesen sein. Und aus dem, was er an den Vögeln und Schildkröten der Galapagosinseln, an Rankenfußkrebsen, an Tauben, die er selbst züchtete, erkannte, schuf er die ganze Evolutionstheorie. Er hatte keine anderen Werkzeuge als seine Augen und seinen Verstand.
Heute beruht die Wissenschaft auf aufwändigen Experimenten. Wir verlassen uns auf teure Geräte. Ich verlange von meinen Studenten, dass sie viel mehr Zeit mit Nachdenken als mit Technik verbringen. Bei den Materialschlachten der Kollegen aus den reichen Ländern können wir ohnehin nicht mithalten. Diesen Rückstand müssen wir mit mehr Hirneinsatz ausgleichen. Das mag ein Vorteil sein, weil wir so eher zu einem tiefen Verständnis gelangen.
Die Evolutionstheorie wird dieses Jahr 150 Jahre alt. Aber viele Menschen haben sich mit ihr noch immer nicht abgefunden und versuchen sogar, sie zu bekämpfen. Sie empfinden Darwins Lehre als blasphemisch, vermissen in ihr einen göttlichen Plan.
Im Westen ist das so. Bei uns in Indien hat niemand Schwierigkeiten mit der Evolutionstheorie. Dass die Welt in ständiger Entwicklung begriffen ist, dass Zerstörung und Neuschöpfung miteinander einhergehen, dass die Naturgeschichte kein Ziel hat – all das lehrt die hinduistische Philosophie seit jeher.
In Ihrem Land lebt noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung am Existenzminimum oder sogar darunter. Stoßen Sie da eigentlich auf großes Verständnis, wenn Sie Geld einfordern, um Wespen zu erforschen?
Unbedingt. Indien hat eine sehr alte Tradition der Gelehrsamkeit. Und alle sind sich einig darüber, dass wir nur durch den Erwerb von Wissen einen Sprung nach vorne antreten können. Selbst in den ärmsten Dörfern wird das verstanden.
Was gibt die Naturforschung Ihnen selbst?
Wenn ich den Wespen dabei zusehe, wie sie ihre Larven füttern, werde ich ganz ruhig. Diese Insekten erinnern mich immer wieder daran, dass ich Teil einer Gemeinschaft bin – und wie wichtig diese Gemeinschaft ist. Andere Forscher, die sich etwa nur mit Molekülen befassen, vergessen das leicht. Und für Tiere da zu sein, lehrt schließlich, sich selbst weniger wichtig zu nehmen.
Wer sich um andere Menschen kümmert, lernt das auch.
Ja. Aber Menschen geben Ihnen fast immer etwas zurück. Von einer Wespe dagegen bekommen Sie gar nichts. So lernen Sie wahre Hingabe. Deswegen sollten wir alles dafür tun, dass unsere Kinder ein inniges Verhältnis zur Natur entwickeln.