"Wir waren sehr naiv"

 Ein Gespräch mit Craig Venter

erschienen in Zeit Magazin 03/09

Craig Venter ist der wohl umstrittenste Wissenschaftler unserer Zeit. Seine Bewunderer rühmen Charisma, Mut und Intelligenz dieses Biochemikers, der mehr Gene entschlüsselt hat als irgendwer sonst. Für seine Feinde hingegen ist er »Darth Venter«: Wie der brutale Tyrann Darth Vader in Krieg der Sterne einst von der Truppe der Guten abfiel und auf die dunkle Seite der Macht wechselte, so habe auch Venter das staatliche amerikanische Gesundheitsforschungszentrum NIH verlassen und private Forschungseinrichtungen und Firmen gegründet, um Alleinherrscher über das Universum der Gene zu werden.

Wir begegneten uns zum ersten Mal vor genau zehn Jahren. Damals hatte Venter gerade angekündigt, er werde mit einer neu gegründeten Firma in nur drei Jahren das menschliche Genom sequenzieren. Damit löste er das Rennen um das Erbgut des Menschen und eine Gen-Euphorie ohnegleichen aus: In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, die Gene seien der Schlüssel zum Schicksal eines jeden Menschen.

Diesmal trafen wir uns in Venters Sommerhaus auf Cape Cod bei Boston. Ich wollte wissen, was aus dem Genomprojekt, den Hoffnungen und Ängsten, die es freigesetzt hatte, geworden ist – und was aus Venter selbst. Er erschien in abgeschnittenen Jeans und mit einer schwarzen Sonnenbrille, die er erst gegen Ende des Gespräches abnahm.

Stefan Klein: Herr Venter, Sie haben vor ein paar Monaten als einer der ersten Menschen Ihr ganzes eigenes Genom kennengelernt.

Craig Venter: Wieso »einer der ersten«? Ich war der erste.

Klein: Ihr alter Rivale James Watson, der die Struktur der Erbsubstanz DNA entdeckte, war schneller.

Venter: Von wegen, er kam nur mit seiner Pressemitteilung ein paar Tage früher heraus.

Klein: Was haben Sie denn aus der Kenntnis Ihrer Erbsubstanz über sich selbst erfahren?

Venter: Zum Beispiel, warum ich Kaffee und Cola so gut vertrage. Ich habe gleich zwei Kopien eines Gens, das für einen sehr schnellen Koffeinstoffwechsel sorgt. Watson dagegen gehört zu den Menschen mit einem langsameren Stoffwechsel. Diese laufen nach ein paar Tassen Kaffee viel leichter Gefahr, einen Herzanfall zu bekommen. So klärt sich die alte Debatte, ob Koffein schädlich ist oder nicht – es hängt ganz von Ihren Genen ab.

Klein: Das Sequenzieren Ihres Genoms hat mehr als zehn Millionen Dollar gekostet. Ihr Institut hat das Geld wohl kaum ausgegeben, um Kaffeetrinker zu beruhigen.

Venter: Wir wollten endlich das vollständige Genom eines Individuums kennenlernen. Die bisher bekannten Sequenzen waren ja aus der Erbinformation verschiedener Menschen zusammengesetzt. Und diese stammte überdies aus bestimmten Körperzellen, die jeweils nur ein Chromosom haben – also auch nur die halbe Information. Das Genom, das wir nun veröffentlicht haben, ist das meiner normalen Zellen. Diese enthalten jedes Chromosom doppelt, je eines von meinem Vater und von meiner Mutter. Und diese beiden weichen mehr voneinander ab, als wir dachten. Offenbar haben wir die genetischen Unterschiede zwischen den Menschen weit unterschätzt.

Klein: Dass es ein menschliches Genom gäbe, wie so oft behauptet, ist offenbar eine Fiktion. Passender wäre es, von mehr als sechs Milliarden Genomen zu sprechen – so viele Menschen gibt es.

Venter: Als Individualist, der ich bin, gefällt mir diese Erkenntnis: Zwei Personen können sich um bis zu drei Prozent ihrer Erbinformation unterscheiden. Bisher ging man von weniger als einem Tausendstel aus.

Klein: Ihr Erbgut erlaubt einen Blick in die Zukunft. Es enthält Gene, die ein langes Leben bis weit über 90 Jahre versprechen – allerdings auch solche, die auf ein erhöhtes Risiko hindeuten, Alzheimer zu bekommen. Wie gehen Sie mit der Aussicht auf ein solches Schicksal um?

Venter: Sie beunruhigt mich wenig. Meine Tante väterlicherseits, die gerade 80 wurde, hat denselben Genfaktor und kein Alzheimer, ebenso wenig kommt diese Krankheit aufseiten meiner Mutter vor. Vielleicht gibt es andere Gene, die diese Risikogene unterdrücken. Jedenfalls verstehen wir das Genom noch längst nicht gut genug, um einfach aus der Sequenz auf Krankheitsgefahren schließen zu können. Hinzu kommen die Umwelteinflüsse. Wenn Sie geistig rege sind, ist Ihr Alzheimerrisiko weitaus geringer. Dasselbe sollten die Medikamente bewirken, die ich in Kenntnis meiner Gendaten vorsorglich schlucke.

Klein: James Watson weigerte sich, derart heikle Informationen aus seinem Erbgut zu veröffentlichen. Er wollte nicht, dass bekannt wird, ob er eine Neigung zu Alzheimer hat. Ihnen macht es nichts aus, vor der Welt genetisch nackt dazustehen?

Venter: Nein – eben weil die Gene nicht unser ganzes Leben bestimmen. Abgesehen davon ziehe ich vor Watson den Hut dafür, dass er seine ganze übrige Genomsequenz ins Internet stellte. Damit ist er ein gutes Vorbild. Viel mehr Menschen sollten ihre Erbinformation offenlegen – und zeigen, dass wir vor unseren Genen keine Angst zu haben brauchen.

Klein: Sie sind privilegiert, Sie müssen nicht fürchten, dass Arbeitgeber, Versicherungen oder wer auch immer das Wissen über Ihre Gene missbrauchen.

Venter: Richtig. Aber wir müssen lernen, mit diesem Wissen umzugehen. In zehn Jahren wird es ganz normal sein, dass Menschen ihre eigene Genomsequenz kennen.

Klein: Sie jedenfalls kennen keine Scheu, sich zu offenbaren. Nur ein paar Wochen nach Ihrem Genom veröffentlichten Sie Ihre ziemlich freimütige Autobiografie »A Life Decoded« – »Ein entschlüsseltes Leben«.

Venter: Nun ja, ich dachte, ich könnte anderen ein Beispiel geben. Ich hatte eine ungewöhnliche Karriere, ein aufregendes Leben.

Klein: Sehr aufregend, scheint es. Wir lesen da etwa von einem Kampf mit einer giftigen Seeschlange. Das Tier habe Sie beim Surfen an der vietnamesischen Küste angefallen. Sie wollen die Bestie mit einer Hand am Kopf gepackt, durch vier Meter hohe Wellen schwimmend ans Ufer befördert und dort erst erlegt haben. Ist das nicht ein wenig dick aufgetragen?

Venter: Die getrocknete Schlangenhaut hängt noch heute als Trophäe über meinem Schreibtisch. Das Tier hätte mich umbringen können.

Klein: Sie hatten ziemliches Glück.

Venter: Nein. Ich habe geistesgegenwärtig gehandelt. Und ich bin ein sehr ausdauernder Schwimmer – wozu mich nicht zuletzt eine für den Muskelstoffwechsel zuständige Genvariante befähigt.

Klein: Der Untertitel in der englischen Ausgabe Ihres Buches lautet: »My Genome, my Life«. Tatsächlich versuchen Sie, Ihre Erlebnisse mit Ihren Erbanlagen in Beziehung zu setzen. Aber man fragt sich: Wie viel hat das eine wirklich mit dem anderen zu tun?

Venter: Die Vorstellung, dass man menschliches Verhalten auf einzelne Gene zurückführen kann, ist zu naiv. Wohl aber dürften bestimmte Eigenschaften der Persönlichkeit genetisch festgelegt sein.

Klein: Nehmen wir Ihre außerordentliche Risikofreudigkeit. Dieser Charakterzug wurde in mehreren Studien in Zusammenhang mit bestimmten Varianten von Genen gebracht, welche die Verarbeitung des Hormons Dopamin im Nervensystem steuern. Aber Ihr Erbgut zeigt an dieser Stelle keinerlei Auffälligkeit.

Venter: Ich bin auch nicht sehr risikofreudig. Allerdings sind gerade diese Studien wenig aussagekräftig.

Klein: Von der Seeschlange einmal abgesehen: Zu der Zeit, als Sie Tausende Forscher zu einem Wettkampf um die Entschlüsselung der menschlichen Genomsequenz herausgefordert hatten, segelten Sie auch noch mit einer kleinen Jacht in einen Sturm bei den Bermudainseln – einfach um zu erfahren, wie das ist. Das alles nennen Sie nicht risikofreudig?

Venter: Nein, weil mir ja klar war, dass ich den Orkan würde bewältigen können.

Klein: Dann wüsste ich gerne, woher Sie Ihr Selbstbewusstsein beziehen.

Venter: Aus Erfahrung. Mein Selbstvertrauen war anfangs ziemlich gering. Ich war ein miserabler Schüler und hasste den Unterricht – was rückblickend gut war, weil mir so die Schule nicht meine Kreativität austreiben konnte. Aber im Wettkampfsport als Schwimmer habe ich gemerkt, dass ich sehr wohl kann, wenn ich nur will. Ich erinnere mich gut, wie diese Erfahrung mich veränderte.

Klein: Und wie erklären Sie sich Ihre Begeisterung für Wettkämpfe?

Venter: Einerseits dadurch, dass ich aus dem Schatten meines älteren Bruders heraustreten wollte. Andererseits hat es selbstverständlich mit meinen Anlagen zu tun. Aber wie viel sagt das? Wenn Sie, genetisch bedingt, eine aggressive Persönlichkeit haben, können Sie als Olympiasieger enden – oder als Krimineller.

Klein: Beeindruckende Untersuchungen haben in den letzten Jahren gezeigt, in welchem Maße die Lebensumstände festlegen, wie Gene wirken. Wer etwa früh im Leben starkem Stress ausgesetzt ist, auf dessen DNA können sich Moleküle niederlassen, die bestimmte Gene auf Dauer blockieren. Solche Menschen neigen dann zur Ängstlichkeit und zu Depressionen...

Venter: ...während andere mit denselben Anlagen, aber ohne eine solche Geschichte später selbst sehr belastende Erlebnisse wegstecken können.

Klein: Für Sie muss der Einsatz in Vietnam sehr belastend gewesen sein. Sie waren Sanitäter in einem Militärhospital.

Venter: Ich kam aus einer einigermaßen behüteten Welt und musste plötzlich mit Menschen zurechtkommen, die unaufhörlich schrien, deren Leiber zerstückelt waren. Von dieser Erfahrung wird jeder mehr oder minder psychologisch traumatisiert. Im Gegensatz zu so vielen anderen wurde ich weder süchtig noch depressiv.

Klein: Aber Sie berichten von einem Selbstmordversuch in Vietnam. Sie seien weit in den Ozean hinausgeschwommen, um sich zu ertränken – dann aber umgekehrt.

Venter: Ich glaube, der versuchte Suizid hat weniger mit meiner Persönlichkeit als einfach damit zu tun, dass ein Leben in Vietnam verdammt wenig wert war. Wenn Sie Nacht für Nacht unter Raketenbeschuss stehen und Ihnen täglich Dutzende Menschen unter den Händen wegsterben, scheint es Ihnen irgendwann beinahe egal, ob Sie selbst nun leben oder nicht.

Klein: Sie entschieden sich dann doch für das Leben.

Venter: Ich bin ein hartnäckiger Optimist: Hier vermute ich tatsächlich einen Einfluss der Gene.

Klein: Leiden Sie denn noch immer unter einem Vietnam-Trauma?

Venter: Die Erfahrung des Krieges hat mich stärker gemacht. Sie gab mir eine enorme Motivation, mein Leben nicht zu verschwenden. Abgesehen davon blieb mir ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber jeder Regierung.

Klein: Was genau macht nun den einen widerstandsfähig, den anderen labil? Können wir das überhaupt herausfinden, wo doch die Einflüsse von Genen und Umwelt so eng miteinander verwoben sind?

Venter: Jedenfalls nicht anhand eines einzigen Genoms. Um solche Fragen zu beantworten, müssen Sie das Erbgut von vielleicht zehntausend Menschen sequenzieren. Wenn Sie dann auch noch in allen Einzelheiten deren Persönlichkeit kennen und zu den gesammelten Erbinformationen in Beziehung setzen, können Sie erfahren, welche Eigenschaften eines Menschen sich durch welche Muster in den Gensequenzen vorhersagen lassen.

Klein: Mich erinnert das an eine Art Psychoanalyse – aus Gendaten.

Venter: Nur wird sie viel vernünftiger sein als die freudschen Sitzungen auf der Couch.

Klein: Aber zehntausend Genome zu sequenzieren, kann niemand bezahlen. Ihr Plan ist Science- Fiction.

Venter: Keineswegs – wir haben schon angefangen, ihn zu verwirklichen. Wir beginnen mit zehn Genomen binnen eines Jahres. Die Technik wird immer billiger. Und sobald wir Geld bekommen, sequenzieren wir mehr.

Klein: Und noch schwieriger ist es vermutlich, alle wichtigen Eigenschaften einer Person zu erfassen.

Venter: Ja. Denn Sie müssen alles dokumentieren: Intelligenz, Charakterzüge, Lebens- und Krankheitsgeschichte, aber auch die Eigenheiten des Stoffwechsels. Sie müssen wissen, wie das Gehirn auf bestimmte Reize reagiert, selbst wie sich der Blutdruck verändert, wenn Sie die Hand in kaltes Wasser tauchen.

Klein: Sie wollen den vollständig gläsernen Menschen.

Venter: Ein digitales Abbild des Menschen. Wir haben das Genom im Computer erfasst, jetzt versuchen wir eben dasselbe für den ganzen Organismus.

Klein: Die Vorstellung ist unheimlich, dass Menschen eines Tages all ihrer Geheimnisse beraubt wären.

Venter: Aber Geheimnisse bleiben uns doch. Selbst wenn wir alle wichtigen Persönlichkeitszüge kennen, wird es vermutlich nie gelingen, den ganzen Reichtum menschlichen Verhaltens im Computer zu modellieren.

Klein: Im Juni 2000 verkündeten Sie und Ihre Kollegen vom staatlichen Genomprojekt der Weltöffentlichkeit, die menschliche Erbinformation sei entschlüsselt. Nach all dem, was damals behauptet wurde, müsste der gläserne Mensch längst Realität sein.

Venter: Ja, die Presse war unglaublich leichtgläubig. Aber wir haben immer gesagt, dass dies nur der Anfang, nicht das Ende der Reise ist.

Klein: Ich habe Ihnen die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 27. Juni 2000 mitgebracht. Vier volle Seiten sind darin bedruckt mit einer schier endlosen Folge der Buchstaben A, C, G und T. Diese steht für die angeblich letzte Sequenz des menschlichen Genoms, die Sie entschlüsselt hatten. Und darüber steht »Craig Venters letzte Worte«.

Venter: Dabei waren es doch meine ersten Worte!

Klein: Eben – nämlich die Information, mit der Ihr Leben begann. Sie hatten schon damals Erbgut aus Ihren eigenen Spermazellen entschlüsselt, wie man später erfuhr. Viele Kollegen haben Ihnen das sehr übel genommen.

Venter: Die Gelegenheit war einfach zu günstig. Außerdem bestand die Sequenz nur zu gut 60 Prozent aus meinen Genen. Wir wären heute weiter, hätten wir damals schon mein ganzes Genom sequenziert. Denn wenn man das Erbgut verschiedener Menschen vermischt, verliert man Information.

Klein: Was hat die Entschlüsselung des Erbguts bisher eigentlich gebracht? 1998 kündigten Sie an, Sie würden schneller sein als das staatliche Genom-Projekt und so viele Tausend Leben retten. Doch bis heute gibt es keine einzige Therapie, die auf der Kenntnis des kompletten menschlichen Genoms beruht.

Venter: Nein, aber die Arbeitsweise der Forscher hat sich völlig verändert. Ich selbst habe am Anfang meiner Karriere 19 Jahre damit verbracht, die Eigenschaften eines bestimmten Rezeptorproteins zu entschlüsseln. Heute würden Sie einen guten Teil dieser Informationen bekommen, indem Sie in einer Gendatenbank nachsehen. Das dauert 30 Sekunden. Ich nenne das eine stille Revolution.

Klein: Und doch: Sind wir so viel klüger geworden, wie Sie erwarteten, als Sie das Rennen um das Genom begannen?

Venter: Ehrlich gesagt – nein. Große Fortschritte gab es, aber sie kamen langsamer, als ich es vorhergesagt hatte. Es liegt daran, dass sich die staatlichen Genforschungszentren erst einmal bequem zurückgelehnt haben, sobald die Sequenz bekannt war.

Klein: Jetzt sind Sie ungerecht. Ihre Kollegen haben große Programme aufgelegt. Sie wollen aus der Kenntnis des Genoms die Krebsentstehung besser verstehen oder auch, wie die Gene ihre Wirkung selbst steuern. Sogar ein 1000-Genom-Projekt gibt es, um die ganze Vielfalt der menschlichen Erbinformation zu vermessen.

Venter: Vor allem haben sie Presseerklärungen verfasst.

Klein: So ähnlich reden Ihre Rivalen von Ihren Vorhaben auch. Weshalb sind Biologen eigentlich so kampfeslustig?

Venter: Wir sind Darwinisten – fressen oder gefressen werden.

Klein: Hat der langsame Fortschritt nicht einfach damit zu tun, dass die Sache vertrackter ist als erwartet? Von 95 Prozent der Erbsubstanz weiß noch keiner genau, wozu sie eigentlich gut ist. All die Abschnitte, die keine Gene sind und noch vor ein paar Jahren als »DNA-Schrott« abgetan wurden, haben offenkundig wichtige Funktionen – nur welche?

Venter: Ja, wir waren sehr naiv und zu optimistisch.

Klein: Zudem wirkt das Genom mit anderen Substanzen im Zellkern auf viel kompliziertere Weise zusammen als gedacht. Eigentlich hat es gar keinen Sinn, die Erbinformation ohne die Zelle zu untersuchen, die sie umgibt.

Venter: Diese Einsicht beginnt sich tatsächlich durchzusetzen. Sie widerspricht den gewohnten Dogmen der Biologie.

Klein: Vielleicht ist das Genom gar nicht das »Buch des Lebens«, in dem man einfach nur lesen muss.

Venter: Diese Vorstellung ist sicher ganz falsch. Wenn überhaupt, dann ist die DNA so etwas wie die Software des Lebens.

Klein: Was ist der Unterschied?

Venter: In einem Buch finden Sie sofort den Text, der Sie interessiert. Die Software hingegen zeigt nur, was bei der Datenverarbeitung am Ende herauskommt. Das Programm selbst, das dahintersteht, bleibt Ihnen verborgen. Und Sie erfahren auch nicht, wie es zu diesen Ergebnissen kam...

Klein: ...ebenso wenig wie wir verstehen, wie aus den Molekülen der Erbsubstanz in neun Monaten ein Mensch wird, der dann mit spätestens zwei Jahren zu sprechen beginnt.

Venter: Wir werden es verstehen. Wir haben jetzt die Technik dazu. Darin liegt vermutlich die größte Errungenschaft des Genomprojekts.

Klein: Ihnen persönlich hat der Wettlauf um die menschlichen Gene großen Reichtum gebracht. In Ihrer Autobiografie dürfen wir mitverfolgen, wie Ihre Jachten fast jährlich länger und teurer wurden. Was bedeutet Ihnen Geld?

Venter: Es war ein unerwarteter Segen. Ich bin in nicht sehr begüterten Verhältnissen aufgewachsen, während meine Freunde mit dem Sportwagen zur Schule fuhren. Später dachte ich, dass ich als Wissenschaftler wohl nie mehr Geld bekommen würde als das Preisgeld für den Nobelpreis.

Klein: Wann haben Sie denn zum ersten Mal vom Nobelpreis geträumt?

Venter: Als Student. Aber ich habe meine Forschung nie um des Geldes willen betrieben. Übrigens besitze ich viel weniger, als alle glauben: Millionen, nicht Milliarden. Als die Börse in die Knie ging, ist alles verpufft.

Klein: Und Sie mussten kurz darauf das von Ihnen mitbegründete Unternehmen Celera verlassen. Bestätigt Ihr Scheitern nicht im Nachhinein die Ansicht Ihrer Kritiker, dass Grundlagenforschung und Geschäftemacherei unvereinbar seien?

Venter: So hätten’s alle gern. Ich aber glaube bis heute, dass zwischen Business und Wissenschaft kein grundsätzlicher Konflikt existiert.

Klein: Wirklich? Sie selbst sprachen einmal von einem faustischen Pakt, den Sie da eingegangen seien.

Venter: Beide können einander großartig befruchten. Schwierigkeiten gibt es nur zwischen Menschen, die nicht integer sind – auf beiden Seiten. Als ich gehen musste, machte Celera schon Gewinn. Nur war das Unternehmen seinen Geldgebern nicht profitabel genug.

Klein: Sie zogen sich damals auf Ihre Jacht zurück, ließen Tausende Proben aus den Wassern aller Weltmeere entnehmen und sequenzierten die darin enthaltenen Mikroorganismen. Wieso haben Sie sich vom Menschen abgewandt?

Venter: Habe ich nicht: Ungefähr ein Drittel meiner Zeit widme ich wieder dem menschlichen Genom. Aber daneben gibt es viele andere drängende Fragen. Letztlich war es ein Schritt weiter in der Entwicklung unserer Technik: Erst haben wir uns vom Erbgut eines einzelnen Bakteriums zu dem des Menschen mit seinen 23.000 Genen vorgearbeitet. Jetzt aber konnten wir in 200 Litern Seewasser mehr als eine Million Gene sequenzieren. Und dabei haben wir über 10.000 neue Arten entdeckt. Wir haben das bekannte Reich des Lebens dramatisch ausgedehnt.

Klein: Was nützt das?

Venter: Wir wollen verstehen, wie das Leben grundsätzlich funktioniert. Mit den Daten, die wir nun haben, können wir beispielsweise verschiedene Arten vergleichen und herausfinden, warum ein Bakterium nur 500 Gene hat, ein anderes aber 1800. Mit wie wenigen Genen ist Leben überhaupt möglich? Das wollten wir wissen, vor allem um auf möglichst einfache Weise künstliche Genome und damit Organismen nach Maß herzustellen.

Klein: Kritiker sagen, Sie wollten Gott spielen.

Venter: Das ist eine dumme Kritik. So heißt es immer, wenn Menschen ihre Möglichkeiten erweitern. Schon bei der ersten Herztransplantation, sogar als die Antibiotika aufkamen, mussten Forscher sich mit diesem Vorwurf herumschlagen. Im Übrigen schaffen wir ja kein Leben aus dem Nichts. Wir versuchen nur, die Bausteine des Genoms zu identifizieren und sie dann im Labor neu zusammenzusetzen.

Klein: Sie selbst haben große Vorbilder für dieses Unternehmen genannt: »Das Ziel ist – und da, glaube ich, muss man an den Film ›Superman‹ denken –, die Welt zu retten.«

Venter: Nun, wir wollen Mikroben herstellen, die das schädliche Kohlendioxid aus der Atmosphäre wieder in nutzbaren Brennstoff verwandeln.

Klein: Jede Pflanze tut das.

Venter: Ja, aber unsere künstlichen Organismen werden tausendmal wirksamer sein. Und sie werden ohne Umweg Treibstoff für Autos und Kraftwerke herstellen, zudem Rohstoffe für die chemische Industrie. So schaffen wir eine Möglichkeit, von einem Zeitalter maßloser Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu einem neuen Gleichgewicht auf unserem Planeten zu kommen.

Klein: Wir hören es gern – Ihre neuen Geldgeber sicherlich auch. Man wirft Ihnen allerdings vor, dass Sie Ihren Status als Rockstar der Wissenschaft benutzen, um haltlose Visionen am laufenden Band zu verkünden.

Venter: Streichen Sie »haltlos«, dann bekenne ich mich schuldig. Aber was ist schlimm daran, seinen Status als Celebrity zu benutzen? Um Dinge anzustoßen, die sonst viel schwerer in Gang kämen, ist er doch gut. Ich wünschte mir, mehr Wissenschaftler würden ihren Ruhm dafür verwenden, die Gesellschaft voranzubringen.