Homo oeconomicus macht schlechte Geschäfte
Ein fremder Wohltäter will Ihnen 1000 Euro schenken. Allerdings stellt er eine Bedingung: Sie sollen mir etwas davon abgeben, und ich muss das Geschenk annehmen. Wenn ich es ablehne, bekommen auch Sie nichts. Wie viel bieten Sie mir?
Die Hälfte? Sie sind ein großzügiger Mensch. Aber wir kennen uns ja nicht und sehen uns nach der Transaktion wahrscheinlich auch nie wieder. Gewiss würde ich mich schon mit 400 Euro begnügen. Auch mit 200? Oder nur 20? Dann könnten Sie 980 Euro für sich behalten. Solange ich mitspiele, kann es Ihnen schließlich egal sein, ob ich Sie für knickrig halte. Denn ich weiß, wie viel Sie selbst einstreichen.
Gingen Sie an meiner Stelle auf so ein Angebot ein? Sie würden sich ärgern, weil sie nicht einsehen, warum der eine so viel mehr bekommen soll als der andere. Ihr Gegenüber kauft sich einen Kaschmirmantel von seinem Gewinn und will Sie mit einem lausigen T-Shirt abspeisen? Also sagen Sie Nein.
Wollen Sie als Geber vernünftig kalkulieren, müssen Sie sich also fragen, wo meine Schmerzgrenze liegt. Wenn Sie einmal Wirtschaftswissenschaft gelernt haben, liegt die Antwort auf der Hand: Bei genau einem Euro. Schließlich lehrt die traditionelle Ökonomie, dass jeder Mensch auf vernünftige Weise für sich den größten Nutzen anstrebt. Lehne ich den Euro ab, schade ich mir selbst, nur, damit Sie ebenfalls leer ausgehen – um Sie zu strafen. Doch anderseits ahnen Sie: Ich bin kein Homo oeconomicus. Und Sie sind es auch nicht. Vermutlich kämen Sie gar nicht auf die Idee, mir ein so schäbiges Angebot zu machen.
Damit verhalten Sie sich ganz normal. Tausende Menschen haben dieses Spiel schon gespielt, und die meisten bieten zwischen 400 und 500 von 1000 Euro. Und sie tun gut daran. Denn die Hälfte der Empfänger verweigern Offerten unter 300 Euro. Wenn noch höhere Summen auf dem Spiel stehen, schlagen Versuchspersonen sogar Angebote aus, die drei vollen Monatslöhnen entsprechen, wenn sie die Teilung als unfair empfinden.
Das Spiel heißt „Ultimatum“, erfunden hat es der in Jena forschende Wirtschaftswissenschaftler Werner Güth. Es misst, wie ausgeprägt unser Gerechtigkeitssinn ist – und zeigt damit, dass sich Menschen in vielen Situationen ganz anders verhalten, als es Ökonomen von ihnen erwarten. Nun geben Forscher bereitwillig zu, dass Homo oeconomicus nur eine nützliche Vereinfachung unseres Wesens ist. Doch da es bislang keine treffendere Vorstellung von der menschlichen Natur gibt, beruht auf diesem Strohmann die gesamte Ökonomie. Wenn Wirtschaftswissenschaftler also Managern Empfehlungen aussprechen, Politiker beraten oder auch in Talkshows auftreten, dann beruht ihre Sicht der Dinge stillschweigend auf der Annahme, dass sich jeder stets rational und eigennützig verhält.
Allerdings beschreibt dieses Konzept unser Verhalten oft auch nicht näherungsweise, wie neben dem Ultimatumspiel etliche andere Experimente belegen. In ihnen erscheint Homo oeconomicus, auch vielen seiner geläuterten Formen, wie sie die Theorie der rationalen Entscheidung vertritt, noch nicht einmal als Karikatur unseres Wesens – sondern als Hirngespinst. Und auch angesichts vieler Phänomene des Alltags versagt dieses Menschenbild. Warum etwa opfern 23 Millionen Frauen und Männer in Deutschland – zwei Millionen mehr als noch vor zehn Jahren – Zeit und Geld für ein Ehrenamt? Wie erklärt sich der spektakuläre Erfolg der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, in der Freiwillige weltweit auf inzwischen mehr als zehn Millionen Webseiten für alle kostenlos das Wissen der Welt zusammengestellt haben? Die Ökonomen stehen ratlos davor.
Wer die Einsichten aus dem Ultimatumspiel damit abtun will, dass sich Menschen im Labor mitunter seltsam verhalten, der verbringe einmal einen Tag an einem deutschen Amtsgericht. Da fordern Rentner Schadenersatz, weil bei einer Gruppenreise im Bus die zugesagte Klimaanlage ausfiel; Handwerker verklagen Kunden wegen zwei angeblich geleisteter, aber nicht bezahlter Arbeitsstunden. Stets streichen die Anwälte ein Vielfaches dessen ein, was am Ende für den Sieger bestenfalls herauskommt. So unsympathisch man die Prozessierer auch finden mag: Allein die Hoffnung auf einen persönlichen Vorteil erklärt ihr Treiben gewiss nicht. Sie sind willens, für Gerechtigkeit – oder das, was sie dafür halten – zu zahlen. Ihnen geht es auch darum, für ein Ideal unserer Gesellschaft zu kämpfen.
Menschen aller Kulturen bringen der Fairness Opfer. Für die bislang umfangreichste Studie über den Gerechtigkeitssinn der Völker reiste der Anthropologe Joseph Henrich und seine Kollegen in die entlegensten Winkel der Welt. Ob unter Studenten in Tokio, auf der indonesischen Insel Java, ostafrikanischen Bauern oder Indios am Amazonas: Nirgends spielen die Menschen das Ultimatumspiel so, wie es die Ökonomen vorhergesagt hätten. Sie sind viel freigiebiger.
Die großzügigsten Menschen der Erde sind dieser Studie zufolge die Lamalera, Walfänger in Indonesien, die ihren Mitspielern regelmäßig fast zwei Drittel des Geschenks anboten. Am geizigsten zeigte sich ein Volk namens Machiguenga im Regenwald Perus. Sie streichen drei Viertel der Summe selbst ein, was ihre Mitspieler als völlig korrekt empfinden. Aber selbst die Machiguenga sind noch immer weit davon entfernt, reine Egoisten zu sein. So tief ist der soziale Instinkt in allen Menschen verwurzelt.
Doch was lässt nun die Lamalera so extrem großzügig handeln, und warum sind ausgerechnet die Machiguenga so knickrig? Unter allen möglichen Hypothesen hielt nur eine der Wirklichkeit stand: Menschen hungern umso mehr nach Gerechtigkeit, je abhängiger sie von anderen sind und je mehr Handel sie treiben.
Die Machiguenga sind Individualisten; jede Familie lebt für sich und weiß kaum etwas von den Freuden und Sorgen der anderen. Bei der gefährlichen Waljagd der Lamalera hingegen müssen alle zusammenhalten. Nur wenn Steuermann, Harpuniere und Matrosen präzise zusammenarbeiten, können sie mit ihren kleinen Booten die Beute stellen.
Offensichtlich ist es die unterschiedliche Lebensweise, die Menschen hier großzügig, dort engherzig macht. Die Lamalera sind freigiebig geworden, weil sie von Kindestagen an lernten, wie sehr sie einander brauchen, während die Machiguenga diese Erfahrung in weit geringerem Maß machen. Die Notwendigkeit, gemeinsam zu handeln, macht uns altruistisch.
Die traditionelle Ökonomie geht vom Einzelnen aus, der nur an die anderen denkt, wenn es ihm nützt. Die neuen Erkenntnisse der empirischen Wirtschaftsforschung hingegen legen eine ganz andere Sichtweise nahe: Das unabhängige Individuum ist eine Fiktion. Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg ist vielmehr das Netzwerk seiner Gemeinschaft. Eine Gruppe, in der ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit herrscht, steht fast immer besser da als ein Haufen von Egoisten. Denn erst auf der Grundlage von gegenseitiger Hilfsbereitschaft, dem Willen zur Fairness und Vertrauen funktioniert Handel. Homo oeconomicus, zahllose Experimente beweisen es, macht schlechte Geschäfte.
Der Zwang zum Miteinander hat das menschliche Wesen offenbar sehr früh geprägt. Nur so lassen sich neue Befunde der Hirnforschung erklären, wonach der Wunsch zu Teilen und zur Zusammenarbeit einer unserer stärksten Handlungsantriebe ist. Wenn Menschen freiwillig etwas für andere tun, sind Lustgefühle ihr Lohn; dabei springen in ihren Köpfen dieselben Schaltungen an, die auch beim Genuss einer Tafel Schokolade oder beim Sex gute Gefühle bereiten. Durch solche Mechanismen lässt sich letztlich auch der spektakuläre Erfolg der Wikipedia oder der freien Software erklären. Denn eingehende Untersuchungen haben gründlich aufgeräumt mit dem Mythos, dass Menschen vor allem aus Eigeninteresse zu solchen Projekten beitragen. Viel mehr zählt für sie fast immer der Wunsch, sein Wissen zu teilen und anderen zu helfen.
Die traditionelle Unternehmensführung vernachlässigt solch selbstlose Motive. Im Einklang mit der noch immer herrschenden Lehre der Wirtschaftswissenschaft geht sie davon aus, dass nur die Hoffnung auf Eigennutz uns antreiben kann. Dabei zeigen neue Experimente, dass Geld Menschen oft sogar demotiviert – dann nämlich, wenn sie aus anderen Antrieben auch ohne Lohn bereit wären, etwas für ihre Gemeinschaft oder eine gute Sache zu tun. Eindrucksvoll demonstrierten dies israelische Forscher an bis dahin unbezahlten Spendensammlern: Sobald die Wissenschaftler den Freiwilligen probeweise eine Provision auf die eingeworbenen Gelder bezahlten, kam weniger Geld zusammen als vorher. Der Wunsch, etwas für andere zu tun, schienen nunmehr für die Versuchspersonen unerheblich zu sein; für sie zählte nur noch die Frage, ob sie für ihren Einsatz einen angemessenen Anteil erhalten.
Je mehr eine Wirtschaft auf Wissen und auf dem Prinzip der Vernetzung beruht, umso stärker ist sie auf die altruistischen Antriebe der Menschen angewiesen. Denn sie lebt zunehmend vom Austausch, während gleichzeitig das Abstecken von Eigentumsrechten immer schwieriger wird. Je mehr Menschen weltweit übereinander wissen und voneinander abhängen, desto stärker steigt der Nutzen der Selbstlosigkeit, während ihre Kosten sinken. Darum werden die erfolgreichen Organisationen künftig diejenigen sein, die die Menschen in ihrem Wunsch, für andere zu handeln, bestärken. Die Zukunft gehört den Altruisten.
erschienen in: Financial Times 8. Oktober 2010