Über Gott und die Welt
erschienen im Zeit Magazin 15 / 2009
Übermäßiger Respekt ist keine Regung, die mich oft plagt. Nachdem allerdings Steven Weinberg für ein Gespräch zugesagt hatte, fragte ich mich doch, wie ich einem Mann begegnen sollte, der wie kaum ein anderer lebender Physiker unsere Vorstellung vom Aufbau und der Entstehung des Universums geprägt hat.
Doch alle Befangenheit verflüchtigte sich, als ich das bescheidene Zimmer an der Universität von Texas in Austin betrat, in dem Weinberg vor einer Tafel mit mathematischen Symbolen saß. Ohne selbst aufzustehen, bot er mir einen Platz an und begann mich sofort in eine Konversation zu verwickeln, die so freundlich war, als hätten wir uns schon lange gekannt. Während des Gesprächs lachte er immer wieder laut auf. Seine Hände spielten unterdessen mit dem vergoldeten Knauf eines Spazierstocks.
Professor Weinberg, ist es wahr, dass Sie die große Entdeckung Ihres Lebens in einem roten Sportwagen gemacht haben?
Ja, in einem Chevrolet Camaro. Das war 1967. Ich versuchte damals, die starken Kräfte zu verstehen, die den Atomkern zusammenhalten. Aber ich gelangte nirgendwo hin.
Meine Rechnungen ergaben wieder und wieder, dass es Teilchen mit der Masse Null geben müsse. Doch das widersprach allen Experimenten. Da ging mir plötzlich auf, dass das gewichtslose Teilchen nichts anderes ist als das Photon...
... anschaulich gesprochen das längst bekannte Elementarteilchen des Lichts.
Genau. Meine Überlegungen stimmten, nur betrafen sie ein ganz anderes Problem, als ich dachte. Ich hatte eine Theorie für die starken Kräfte im Atomkern gesucht und eine für die Strahlung des Lichts und bestimmte Phänomene der Radioaktivität gefunden
Wie ein Detektiv, der die Spur zu einem Verbrechen verfolgt und dabei ein ganz anderes aufklärt.
So ähnlich. Und das alles begriff ich, als ich durch die Straßen von Boston zur Arbeit fuhr.
Nicht sehr verkehrssicher.
Wenigstens habe ich am Steuer nicht telefoniert. Aber es ist wirklich ein Problem: Wir theoretischen Physiker denken ständig über das nach, woran wir uns gerade versuchen – wie Komponisten und Dichter vielleicht auch. Und darüber vergesse ich eben, wo ich den Wagen geparkt habe, oder was ich eigentlich in dem Laden kaufen wollte, den ich gerade betreten habe.
Ihr Heureka hinter dem Lenkrad hat der Grundlagenphysik eine neue Richtung gegeben. Aus ihr entstand das so genannte „Standardmodell“, die heute allgemein akzeptierte Vorstellung vom Aufbau der Materie und der Entstehung des Universums. Ahnten Sie das in diesem Moment?
Meistens rennt man ja in eine Sackgasse. In diesem Fall spürte ich immerhin, dass an meiner Idee etwas dran sein könnte. So war es denn eine große Freude, eine Theorie auszuarbeiten, die vielleicht stimmte. Dass ich tatsächlich richtig lag, zeigten aber erst Experimente sechs Jahre später. Das war die zweite große Freude.
Die moderne Physik kennt vier Grundkräfte, die sich in ihrer Stärke und Reichweite unterscheiden: die Schwerkraft, die elektromagnetische Kraft, die schwache und die starke Kernkraft. Sie und Ihre Kollegen hatten begriffen, wie man zwei dieser Naturkräfte – die elektromagnetische und die schwache –, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, auf eine einzige Grundkraft zurückführen kann. Und verschiedene Phänomene als eine Einheit zu erkennen, bedeutet für einen Grundlagenphysiker so etwas wie den heiligen Gral zu erreichen. Warum eigentlich?
Weil wir zu einem einfacheren Verständnis der Natur vorstoßen wollen. Und der Weg zur Einfachheit ist Vereinheitlichung. Denken Sie an Newton, der erkannte, dass die Planeten denselben Gesetzen folgen wie ein zu Boden fallender Stein. Es gibt also nicht getrennte Naturgesetze für Himmel und Erde, wie man bis dahin dachte – nur die Gravitation, die überall herrscht. Das war ein großer Fortschritt.
Doch für die Vereinheitlichung zahlen Sie einen hohen Preis. Sie mögen zwar die Zahl der Naturgesetze verringern. Dafür wird es aber immer schwieriger, diese wenigen grundlegenden Gesetze zu verstehen. Nur noch wenigen Eingeweihten gelingt das.
Das ist leider wahr. Allerdings hatte das Publikum im 17. Jahrhundert mit Newton auch seine Not. Heute begreift jeder Abiturient die von ihm entdeckten Gesetze. Voltaire hat sie mit seinen Kommentaren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Vor allem gebührt dieser Ruhm Voltaires Geliebten, Émile du Châtelet. Sie verfasste die meisten der Kommentare. Aber wie auch immer: Betrübt es Sie, wenn zum Beispiel auf einer Party keiner Ihre Arbeit versteht?
Ja. Manchmal ist es sehr frustrierend. So hatte ich einmal vor dem Kongress in Washington über das Projekt eines neuen Teilchenbeschleunigers hier in Texas vorzutragen. Da fragte mich einer der Abgeordneten: „Wofür braucht Ihr einen Beschleuniger? Macht das doch einfach mit einem großen Computer.“ Er hatte noch nicht einmal begriffen, dass ein Computer nichts ausrechnen kann über Phänomene, die keiner kennt. Denn mit dem Beschleuniger wollten wir ja gerade neue Naturgesetze entdecken. Noch schlimmer aber sind all die Leute, die einen nur dafür bewundern, dass man etwas tut, was sie nicht verstehen. Viele glauben ja auch, dass unzugängliche Dichtung zwangsläufig tiefsinnig sei. Wir sollten uns überhaupt nichts darauf einbilden, dass Physik schwer zu verstehen ist – sondern etwas dagegen tun.
Den Teilchenbeschleuniger wünschten Sie sich, weil sich die Grundkräfte erst bei sehr hohen Energien vereinigen, wie sie in den ersten Augenblicken nach dem Urknall vorherrschten oder eben auch im Beschleuniger herstellbar sind. Aus dem Projekt in Texas wurde aber nichts.
Leider war ich in politischen Dingen nie sehr erfolgreich.
Dafür hat das Standardmodell alle bisherigen Tests an den schwächeren Beschleunigern des Genfer Kernforschungszentrums glänzend bestanden. Und im vorigen Jahr ging dort eine Maschine in Betrieb, der LHC, welcher ähnliche Energien erreichen soll wie Ihre Wunschapparat in Texas Dummerweise gab es gleich eine heftige Explosion im unterirdischen Beschleunigertunnel und der LHC ist bis auf weiteres kaputt. Waren Sie enttäuscht, als Sie davon erfuhren?
Natürlich. Aber es heißt ja, dass der Beschleuniger im kommenden Herbst wieder laufen soll. Wir haben schon so lange gewartet – auf ein paar Monate Verzögerung kommt es nun auch nicht mehr an.
Welche Entdeckungen erhoffen Sie sich?
Wenn irgendjemand wüsste, was kommt, könnten wir uns die Experimente ja sparen. Die meisten von uns rechnen damit, dass man ein neues Elementarteilchen namens Higgs-Boson aufspüren wird...
... welches dafür verantwortlich sein soll, dass alle Dinge eine Masse haben.
Aber wenn das alles ist, was wir finden, wäre es wirklich sehr enttäuschend. Ich persönlich wünsche mir Aufschluss über die dunkle Materie ...
... eine geheimnisvolle Substanz, von der es im Universum fünfmal mehr geben muss als von allen bekannten Erscheinungsformen der Materie.
Wir haben bisher nicht die geringste Ahnung, woraus sie besteht. Schön wäre es auch, wenn wir eine neue, Supersymmetrie genannte Ordnung im Reich der bekannten Elementarteilchen feststellen könnten. Davon reden wir nun schon seit mehr als dreißig Jahren. Es wäre sehr aufregend, die Supersymmetrie nun wirklich zu sehen.
Das Standardmodell, das Sie damals in ihrem roten Chevrolet Camarro mitbegründet haben, ist nicht vollständig. Zum einen sind bisher alle Versuche gescheitert, die Schwerkraft mit einzubeziehen. Zum anderen enthält es Zahlenwerte, die sich nicht aus der Theorie selbst ergeben, sondern als Messergebnisse eingefügt werden müssen. Darum versuchen die Physiker seit mehr als dreißig Jahren Naturgesetze jenseits des Standardmodells zu finden. Es ist ihnen bisher immer misslungen.
Das Standardmodell ist nun einmal sehr erfolgreich. Aber sehen Sie sich das einmal ein. (Er zieht ein rotes Büchlein aus der Schreibtischschublade). Darin finden Sie alles, was wir über heute Elementarteilchen wissen: Tabellen, Zahlenkolonnen. Das ist also unsere Theorie. Wie hässlich sie ist! Das ist bestimmt nicht das, was wir wollen. Unser Sinn für Schönheit gehört nun einmal zu unserem Job.
Was nennen Sie denn eine schöne Theorie über die Natur?
Eine, in der sich die Zusammenhänge zwangsläufig ergeben. Alles fügt sich ineinander, und wenn Sie auch nur eine Kleinigkeit verändern möchten, ist das ganze Gebäude zerstört. Solche Theorien gibt es: Denken Sie nur an die Quantenmechanik, welche die Dynamik der Atome und Elementarteilchen beschreibt. Das Standardmodell besitzt diese Geschlossenheit nicht.
Warum sollte eigentlich die Natur so beschaffen sein, dass Menschen ihre Gesetze zwangsläufig und schön finden?
Wenn ich das wüsste. Möglicherweise ist sie nicht so beschaffen, und wir hängen einem Wunschdenken nach. Andererseits aber hat uns diese Suche nach Schönheit schon weit gebracht: Im Lauf der Zeit haben Forscher einige sehr ansprechende Naturgesetze gefunden. Und wenn wir nicht weiter suchen, finden wir bestimmt keine Weiteren. Ich jedenfalls finde dieses unsichere Ziel so attraktiv, dass es sich lohnt, sein Leben damit zu verbringen.
Vielleicht stand Ihre eigene Theorie der Suche im Wege – das Standardmodell war einfach zu erfolgreich. Haben Sie Ihren Geistesblitz in den Straßen von Boston manchmal bereut?
Nein. Ideen bauen aufeinander auf. Das Standardmodell war ein Schritt, der notwendig war, bevor wir den Nächsten tun können. Wenn ich eine Entdeckung der Physik bereue, dann die der Kernspaltung – aus ganz anderen Gründen.
Wonach Sie sich sehnen, ist ein Gesetz, welches das ganze Universum beschreibt. Viele sagen „Weltformel“ oder „Theorie von Allem“ dazu.
Ich mag diese Ausdrücke nicht. Sie erwecken den Eindruck, wir würden alles verstehen, wenn wir an diesem Ziel angelangt sind. Aber so wird es nicht sein. Denken Sie an Phänomene wie das Bewusstsein oder auch nur die Turbulenz in Flüssigkeiten und Gasen. Die physikalischen und chemischen Gesetze, die ihnen zugrunde liegen, kennen wir schon heute. Dennoch sind wir weit davon entfernt, unser Bewusstsein oder das Wetter begriffen zu haben. Deswegen nenne ich das Ziel unserer Suche lieber eine „letztgültige Theorie“.
Selbst viele Physiker zweifeln am Wert solch einer letztgültigen Theorie, die uns gerade über einige der interessantesten Dinge dann doch nicht klüger macht.
Das ist ungerecht. Denn immerhin wird unsere Theorie das Ende aller Erklärungen sein. In unserer Welt haben wir es mit Zufällen und Gesetzmäßigkeiten zu tun. Zufälle können Sie nicht weiter erklären. Es ist sinnlos zu fragen, warum ausgerechnet vor 65 Millionen Jahren ein Komet die Erde traf und damit die Dinosaurier auslöschte. Die Antwort werden wir nie erfahren. Etwas anderes ist es, wenn Sie etwas über die Regeln der Vererbung bei den Sauriern und allen anderen Lebewesen herausfinden wollen. Ihnen liegen Gesetzmäßigkeiten zugrunde, nämlich die der Biochemie. Nun können Sie wiederum die biochemischen Gesetze erklären, nämlich durch die der Atomphysik. Dann kommt die Teilchenphysik, und immer so weiter. Und ganz gleich wonach Sie fragen: Am Schluss landen Sie immer bei der letztgültigen Theorie. Dort enden alle Fragen nach dem „Warum?“.
Kennen Sie die russischen Matrjoschkas?
Sie meinen diese Holzpuppen, die man am Bauch auseinanderziehen kann?
Genau. Wenn man es tut, kommt eine kleinere, wiederum zerlegbare Puppe zum Vorschein. Und so fort, bis man irgendwann eine kleinste, unteilbare Puppe findet. Daran erinnert mich Ihr Traum von einer letztgültigen Theorie. Aber wer sagt, dass die Suche je zum Ende kommt? Gewissermaßen könnte es auf jeder Ebene immer eine noch kleinere Puppe geben.
Gut möglich. Andererseits sehen wir, dass die Erklärungen auf jeder Stufe, die wir bisher erklommen haben, immer umfassender wurden. Das macht mir Mut. Eine andere Frage ist, ob unsere Gehirne mächtig genug sind, diese immer umfassenderen Gesetze auch zu verstehen. Hunden können Sie schließlich auch nicht beibringen, die Schrödinger-Gleichung zu lösen.
Ich frage mich, inwieweit die Sehnsucht nach einem allumfassenden Gesetz des Universums unser kulturelles Erbe ist. Juden, Christen und Moslems glauben an den einen allmächtigen Gott. Mitunter erscheint mir die Suche nach der letztgültigen Theorie wie Monotheismus in einer neuen, weltlicheren Form.
Ein interessanter Gedanke – immerhin entstand die Wissenschaft in ihrer heutigen Form in Europa. Aber ich würde Ihr Argument lieber umdrehen: Der Wunsch nach einem Gott und einer Theorie für den ganzen Kosmos mögen dieselbe Ursache habe. Monotheismus entwickelte sich, weil die Menschen die Vielgötterei zu kompliziert fanden. Und genauso, wie es wenig befriedigend ist, die Gewitter auf Zeus, die Seuchen auf Apollo und die Erntenöte auf Demeter zu schieben, wollen wir Physiker statt des unübersichtlichen Standardmodells lieber eine einheitliche Erklärung der Welt.
Sie meinen, der Wunsch nach einem einzigen Grund für alles entspricht der menschlichen Natur?
Wir haben diesen Wesenszug – das genau umgekehrte Verlangen allerdings auch. Wenn Sie in die Oper gehen, suchen Sie keine einfachen Erklärungen, sondern wollen auf der Bühne die ganze Vielfalt und Komplexität des Lebens erfahren.
Verschiedene Menschen haben unterschiedliche ästhetische Bedürfnisse.
Nein, eher tragen wir alle widersprüchliche Bedürfnisse in uns. Wir wollen beides, Einfachheit und Fülle.
Sie haben Ihre erste Begegnung mit den Symbolen der höheren Mathematik einmal als eine Vision magischer Zeichen beschrieben.
Ich ging in der New Yorker Bronx zur Schule. Eines Tages stieß ich in der Bibliothek zufällig auf ein Buch über Wärmelehre, und darin sah ich dieses Zeichen:
Es steht für eine Operation der Infinitesimalrechnung, ein Integral über eine geschlossene Kurve. Aber das wusste ich nicht. Ich fühlte nur, dass dieses mir obskure Symbol sehr mächtig sein musste – so ähnlich, wie es Faust gegangen sein mag, als er am Anfang von Goethes Drama auf das Pentagramm stößt. Als ich dann lernte, dass dieses Zeichen mathematisch präzise Aussagen über Wärme erlaubt, fand ich die Sache noch aufregender: Wer solche Symbole versteht, dachte ich, könnte die Natur beherrschen.
Sie träumten von Macht.
Nicht in dem Sinne, dass ich mit meinem Wissen etwas anstellen wollte. Ich wollte die Natur intellektuell beherrschen, immer tiefer in ihre Geheimnisse eindringen. Also begann ich, mir selbst höhere Mathematik beizubringen. So kam ich mir wie ein Zauberlehrling vor, als ich mit der Zeit die Symbole immer besser verstand.
Welche Gefühle haben Sie heute beim Nachdenken über die Natur?
Ein Empfinden von Schönheit, des Staunens und eines Mysteriums. Denn wie weit auch immer wir kommen werden auf der Suche nach einer letztgültigen Theorie, so werden wir doch nie erfahren, warum die Naturgesetze so sind, wie sie sind. Ein Geheimnis wird immer bleiben.
Viele Menschen, auch manche Ihrer Kollegen, nennen es Gott.
Ich nicht.
Warum nicht?
Weil der Respekt vor unserer Geschichte es mir verbietet. Das Wort „Gott“ hatte Jahrhunderte lang im Westen eine ziemlich scharf umrissene Bedeutung: Es meinte ein in bestimmter Weise persönliches Wesen, einen Schöpfer, der sich mit Fragen von Gut und Böse befasst. An einen solchen Gott glaube ich nicht. Wenn nun Einstein einen kosmischen Geist von Schönheit und Harmonie „Gott“ nennt, so verleiht er diesem Begriff eine ganz neue Bedeutung. Mir scheint, er tut einem bewährten Wort Gewalt an. Schließlich erfüllt mich das Nachdenken über die Natur auch nicht annähernd mit den Emotionen, die ich gegenüber einem persönlichen Gott hätte. Die Naturgesetze sind unpersönlich, sie interessieren sich nicht für uns. Wie könnte ich für sie warme Gefühle wie für einen anderen Menschen oder selbst für meine Siamkatze hegen?
Ihr Buch „Die ersten drei Minuten“, in dem Sie das Standardmodell erklären, endet mit einem berühmten Satz: „Je begreiflicher uns das Universum wird, desto sinnloser erscheint es uns auch.“ Was meinten Sie damit?
Dass wir nichts finden, was unserem Leben einen objektiven Sinn verleiht. Denn in den Naturgesetzen ist nichts erkennbar, war uns eine besondere Stellung im Universum verleiht. Dies bedeutet nicht, dass ich mein Leben sinnlos finde. Wir können einander lieben und versuchen, die Welt zu verstehen. Doch diesen Sinn müssen wir unserem Leben selbst geben. Vielleicht erinnern Sie sich, dass auf den von Ihnen genannten Satz noch einer folgte: „Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.“
Wieso tragisch?
Tragisch gemessen an dem, was man einst glaubte. Die Menschen hielten sich selbst für Figuren in einem kosmischen Drama: Wir wurden geschaffen, haben gesündigt, werden erlöst – eine ganz große Geschichte. Nun merken wir, dass wir eher wie Schauspieler sind, die ohne Regieanweisung auf einer Bühne herumstehen und dass uns nichts anderes übrig bleibt, als hier ein bisschen Drama, dort ein wenig Komödie zu improvisieren. Ich empfinde dies als einen Verlust.
Man könnte es auch als Gewinn an Freiheit sehen und sich darüber freuen.
Wenn Ihnen das gelingt, herzlichen Glückwunsch. Ich könnte es gerne und kann es nicht. Ich empfinde eine gewisse Sehnsucht nach dem vergangenen Zeitalter des Glaubens. Ich fühle mich von der Religion angezogen. Und meine Abneigung der Religion gegenüber rührt daher gerade daher, dass ich ein Verlangen nach etwas fühle, von dem ich weiß, dass es unwahr ist.
Haben Sie immer so empfunden?
Meine Eltern waren keine besonders gläubigen Juden. Bis zum Alter von vielleicht zwölf Jahren glaubte ich, dass es so etwas wie einen Gott geben müsse, auch wenn ich keiner bestimmten Religion anhing. Dann erschienen mir diese Ideen plötzlich dumm, und dabei ist es geblieben.
Sie haben sich sehr scharf ausgesprochen: „Wir Wissenschaftler sollten alles tun, um die Macht der Religion zu schwächen. Dies wird sich schlussendlich vielleicht als unser wichtigster Beitrag zur Zivilisation erweisen.“ Was macht Sie so wütend?
Die Geschichte. Ich sehe den Niedergang der wissenschaftlich so produktiven griechischen Antike im Wesentlichen als ein Werk des erstarkenden Christentums. Der byzantinische Kaiser Justinian I. ließ die platonische Akademie schließen, weil Neugierde als das sicherste Zeichen von Unglauben galt. Auch sonst scheint mir die Religion mehr Schaden als Gutes anzurichten. Denken Sie nur an all die Religionskriege – bis heute. In unseren Tagen fürchten viele den militanten Islam; im 16. und 17. Jahrhundert war das Christentum grausam intolerant. Aber mit dem Alter sind meine Tiraden gegen die Religion milder geworden. Denn ich hatte nie das Gefühl, dass sie irgendwen überzeugten.
Religionen können auch milder werden. Das Christentum heute ist nicht mehr sonderlich intolerant.
Stimmt, es hat sich im 18. Jahrhundert verändert ...
... unter dem Einfluss von Aufklärung und Wissenschaft.
Weswegen ich denke, dass eine unserer wichtigsten Aufgaben darin besteht, religiöse Gewissheiten zu schwächen.
Der Bundesstaat Texas, in dem Sie leben, ist nicht gerade für seine religiöse Offenheit bekannt. Fühlen Sie sich mit Ihren Ansichten nicht mitunter etwas einsam?
Keineswegs. Erstaunlich viele Menschen empfinden wie ich. Sie sagen mir immer wieder, wie gerne sie meine Essays gelesen haben. Und die anderen sind meist viel weniger religiös, als es scheint. Sie versuchen einen nicht zu bekehren, weil sie sich über ihren Glauben selbst unsicher sind.
Vielleicht haben sie auch einfach nur gute Manieren.
Das allein ist es nicht. Ich musste einmal vor der obersten Schulbehörde meine Meinung darlegen, wie man in den Klassenzimmern unseres Staates mit Darwins Evolutionstheorie umgehen sollte. Ich empfahl, die religiösen Verwicklungen außer Acht zu lassen und einfach nur zu lehren, was gute Wissenschaft ist. Wir haben die Auseinandersetzung gewonnen – einfach, weil die Regierung nicht als rückständig erscheinen wollte. Ernstlich Gläubige hätten anders entschieden.
Forschung und Glaube können friedlich nebeneinander bestehen, wenn sich beide auf getrennte Sphären beschränken. Wissenschaft kümmert sich um das mess- und beweisbare; die Religion um Werte und Vorstellungen, die sich der empirischen Überprüfung entziehen.
Sicherlich. Aber dies bedeutet für die Religion einen gewaltigen Rückzug, denn sie wollte einmal viel mehr. Und diesen Rückzug anzutreten, ist für sie gefährlich, weil sofort die Frage auftaucht, warum ich glauben soll, was doch nicht überprüft werden kann. Aus gutem Grund tagt die Kommission, die im Vatikan vor jeder Seligsprechung die dem Kandidaten zugeschriebenen Wunder überprüft, unter strenger Geheimhaltung.
Die Menschen glauben trotzdem. Ich vermute, auch ein Hang zur Religiosität gehört zu unserer Natur.
Na und? Wir haben auch eine Anlage, uns die Bäuche mit Zucker und Fett vollzuschlagen, und kämpfen dagegen an.
Aber es kostet uns Kraft. Wie leben Sie Ihren Atheismus?
Die großen Werke der Kunst können uns trösten, und der Humor. In einem dieser Woody-Allen-Filme, mir ist entfallen, in welchem, erlebt der Held große Existenzangst ...
In einem?
Jedenfalls gelangt er irgendwie in ein Kino, in dem ein Film der Marx Brothers spielt.
Das ist in „Hannah und ihre Schwestern“.
Der Humor auf der Leinwand versöhnt Woody Allens Protagonisten mit seinem Leben. Wir können uns über uns selbst amüsieren – nicht mit einem schneidenden, sondern einem gutherzigen Humor, wie wir ihn bei den ersten Schritten eines Kindes empfinden. Wir lachen über all seine Anstrengungen, aber wir tun es voll Sympathie. Und wenn uns das Lachen einmal vergeht, bleibt noch immer die grimmige Befriedigung darüber, dass wir auch ohne Wunschdenken leben können.