Der erste moderne Mensch
erschienen in Stern 41/08
„Und hier soll Leonardo seine Leichen gewaschen haben.“ Wir waren eine steile Treppe hinuntergestiegen in die Gewölbe des Krankenhauses Santa Maria Nuova, des ältesten noch bestehenden Hospitals von Florenz; dort führte mich die Architekturhistorikerin Esther Diana in diesen von schweren Pfeilern unterbrochenen Raum, an dessen Wänden drei steinerne Wannen standen. Jede war aus einem einzigen Felsblock gehauen, und jede bot genug Platz, um darin ein Pferd zu baden.
An Regalen vorbei, in denen Aktenordner verstaubten, begleitete mich Esther Diana weiter in ein kleineres Gewölbe: „Und hier fanden die Sektionen statt.“ Nur zwei Glühbirnen spendeten dem fensterlosen Raum Licht, so matt, dass es schein, als würden an den Wänden noch immer die Fackeln glimmen, die Leonardo da Vincis Hände bei der Arbeit beleuchtet haben müssen.
Warum zog sich der Meister zu seinen Forschungen in diese Unterwelt zurück? Zum einen kamen im kühlen Kellergewölbe die Abbauprozesse langsamer in Gang. Freilich konnte Leonardo den Wettlauf mit Zeit und Zersetzung trotzdem nicht gewinnen: „Allein um eine wahre Kenntnis der Blutgefäße zu gewinnen“, schrieb er, „habe ich mehr als zehn menschliche Körper zerlegt.“ Die Strukturen des Körpers sind eingebettet in Fett und Bindegewebe; sie freizulegen ist ein langwieriges Geschäft, bei dem Leonardos wichtigstes Werkzeug die langen Fingernägel seiner bloßen Hände gewesen sein dürften – jene begnadeten Hände, die Kunstwerke vom Rang der Mona Lisa und des Mailänder Abendmahls schufen.
Vor allem aber war Leonardo unter der Erde neugierigen Blicken entzogen. Denn der Meister rührte am Tabu der christlichen Totenruhe, und darauf stand die schwerste Strafe, die die Kirche aussprechen konnte: die Exkommunikation. Um die Gefahr, Aufsehen zu erregen, weiter zu verringern, arbeitete Leonardo nach Dienstschluss. Er berichtete von der „Furcht, die Nachtzeit in der Gesellschaft gevierteilter und enthäuteter und schrecklich aussehender Leichen zu verbringen“.
Doch ohne die grausigen Stunden hätte er die Perfektion, mit der er Menschen darzustellen verstand, niemals erreicht. Bis ihm etwa das so oft bewunderte Lächeln der Mona Lisa gelang, hatte er sich jahrelang um Funktionen und Lage jedes einzelnen Muskels im Gesicht, um seine Nerven, die Kiefernknochen bemüht.
Bei der Anatomie der Körperoberfläche blieb Leonardo nicht stehen. Als er um die Muskeln, Knochen und Sehen wusste, drang er tiefer ein in die Leiber auf seinem Präpariertisch, und legte ihre damals geheimsten Organe frei. Wie ein Besessener fertigte der Meister Hunderte Zeichnungen von Lungen, Magen und Geschlechtsteilen, selbst Innenansichten des Gehirns. Einen ganzen Atlas des menschlichen Organismus wollte er schafften. Und für seinen Erkenntnisdrang war er bereit, alle Tabus zu missachten. Als er sich später in Rom an Untersuchung der Herzkammern machte und sogar Ungeborene im Mutterleib zeigte, wurde er verraten. „Der Papst hat herausgefunden, dass ich drei Leichen enthäutet habe“, schrieb Leonardo voll Sorge. Doch nicht einmal eine Rüge aus dem Vatikan hielt ihn auf – wenig später verließ er die Stadt und begab sich in die Dienste des Königs von Frankreich.
Selten hat ein Mensch so rastlos geforscht wie Leonardo da Vinci. Seine leidenschaftliche Neugier prägte ihn unter all seinen Charakterzügen am stärksten, sie zeichnete ihn auch unter den zahlreichen hervorragenden Künstlern seiner Ära aus. Das unbedingte Verlangen, alles über die Welt zu erfahren, bestimmte Leonardos Denken und Leben. Diese Haltung war so unerhört neu, dass ihm zwar Triumphe als Entdecker, Erfinder und Künstler eintrug, ihn aber auch ins Abseits stellte. Andere mochten glauben, Leonardo wollte wissen. Er war nicht bereit, eine Meinung hinzunehmen, solange er nicht selbst nachgeforscht hatte, koste es selbst einen Konflikt mit dem Papst.
So wurde Leonardo zu einem Wegbereiter der Wissenschaft. Er tastete sich in die geistige Welt vor, in der wir uns heute ganz selbstverständlich bewegen. Er zeigte, wie weit ein Mensch kommen kann, der sich auf eigene Anschauung und auf eigenes Denken verlässt. Mehr noch: Er machte vor, wie man in einer Welt, die im Wandel begriffen ist und in der die alten Autoritäten keine Sicherheit mehr bieten, seinen Weg gehen kann. Leonardo war der erste moderne Mensch – ein Individualist.
Die wahre Bedeutung seines Lebens und Schaffens beginnt sich erst jetzt zu offenbaren, fast 500 Jahre nach Leonardos Tod. Denn endlich wird der Meister aus Vinci nicht mehr nur als Künstler, sondern auch als Erforscher der Welt ernst genommen. In jahrzehntelanger Anstrengung haben Wissenschaftler die über Europa und Amerika verstreuten Bruchstücke aus Leonardos Notizbüchern wieder zusammengesetzt. Viele seiner Ideen wurden erst in diesem gewaltigen Puzzle erkennbar. Ganz neue Einsichten erlaubte zudem der spektakuläre Fund eines verschollen geglaubten Codex. Und seit einigen Jahren haben Experten aus den verschiedensten Gebieten begonnen, sich mit Leonardo zu befassen. Während den Kunsthistorikern, die sich ihm bislang vornehmlich widmeten, viele Skizzen und Gedankengänge in den Notizbüchern unverständlich blieben, können Herzchirurgen, Physiker oder Ingenieure sie aus Sicht ihres Fachs nachvollziehen – und geraten ins Staunen.
Wer war dieser Mann, der im Jahr 1452 als unehelicher Sohn einer Tagelöhnerin in der unbedeutenden Kleinstadt Vinci zur Welt kam? Wir haben uns daran gewöhnt, Leonardo als Künstler und Visionär zu betrachten, der seiner Zeit um Jahrhunderte voraus gewesen sein soll. Viele Bewunderer denken an ein zerfurchtes Gesicht, umrahmt von schon etwas schütteren, langen Haaren und einem wallenden Bart. So hat er sich selbst um das Jahr 1515 tatsächlich gezeichnet. Über 60 Jahre alt war er damals. Aus den tief liegenden Augen sprechen Weisheit, vielleicht auch Resignation und eine Spur Spott – die Züge eines Sehers, der sich von der Welt abgewandt hat.
Doch diejenigen, die ihn kannten, schilderten einen ganz anderen Menschen: Ein unterhaltsamer, auch ein höchst zupackender Mann sei dieser Leonardo aus Vinci gewesen, und nichts weniger als weltfern. Die Zeitgenossen lobten ihn als vorzüglichen Gesellschafter, der betörend Laute spielte und sang. Auch habe er edle Pferde gehalten und seine Hände mit Edelsteinringen geschmückt. Während andere Künstler Handwerkerkluft trugen, erschien er in knielange, rosenfarbige Mäntel gehüllt – ein Dandy, der wusste, seinen Ruhm zu genießen. Höchst diesseitig zeigt ihn auch ein Porträt, das sein Lieblingsschüler Melzi angefertigte. Wir sehen darauf einen Mann in seinen besten Jahren mit ebenso freundlichen wie ebenmäßigen Zügen und hellwachem Blick; in den Augenwinkel stehen Lachfältchen.
Leonardos Blick war tatsächlich außergewöhnlich. Wie seine Tagebücher beweisen, beobachtete er die Erscheinungen der Natur und des Alltags unfassbar genau. Zugleich wusste er, dass das, was er sah, nur ein Ausgangspunkt für seine Überlegungen sein konnte. Während sich seine Zeitgenossen auf Predigten und Bücher verließen, musste er lernen, die richtigen Schlüsse aus seinen Beobachtungen zu ziehen. Mal mehr, mal weniger treffsicher deutete er, was er in den Leichenkammern über den menschlichen Körper, beim tagelangen Betrachten von Vögeln über die Physik des Fliegens oder bei Spaziergängen am Flussufer über Strömungsmechanik herausfand. Er begann Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Wissensgebieten herzustellen, mit Vermutungen zu spielen und sie zu testen. Und schließlich entdeckte er neue Wege, seine Erkenntnisse zu vermitteln. Ein Schultergelenk etwa zeigte er ein halbes Dutzend Mal nebeneinander: Mal von vorne, mal von oben oder hinten; hier die Sehnen hervorhebend, dort die Muskeln halb durchsichtig zeichnend, damit jeder die Funktionsweise des komplizierten Körperteils auf Anhieb verstand. Solche Darstellungsweisen haben nur noch wenig mit der Zeichnkunst der Renaissance gemeinsam, viel stärker erinnern sie an die interaktiven Computergrafiken des 21. Jahrhunderts.
In jahrelanger Selbsterziehung hat Leonardo sich zu einem Meister des Denkens und der Problemlösung entwickelt. Seine Strategien waren die Antwort auf eine Zeit heftiger Umbrüche – eine Lage, die der heutigen erstaunlich ähnelt. Das Leben in den Jahren um 1500 war unsicher geworden, die Menschen suchten nach neuer Orientierung. Mit dem Buchdruck war eine neue Kommunikationstechnik entstanden. Nach dem Fall Konstantinopels hatte sich die Wirtschaft globalisiert, und wer die Chancen zu nutzen verstand, konnte innerhalb weniger Jahre unermesslichen Reichtum ansammeln. Doch zugleich häuften sich die Bankrotte. Söldnerführer terrorisierten das Land. Die moralische Autorität der katholischen Kirche brach zusammen, Columbus landete in Amerika. Taschenuhren kamen auf und vermittelten ihren Trägern ein neues Zeitgefühl.
Vor diesem Hintergrund stieg Leonardo auf vom unehelichen Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, der nie eine höhere Schule besuchte, zu einem Mann, um dessen Gegenwart die Mächtigen Italiens warben, bis er sich schließlich für die Freundschaft des Königs von Frankreich entschied (Kurzbiografie Kasten Seite XXX). Sein Leben währte 67 aufregende Jahre: Achtmal wechselte er den Wohnort, zweimal war er auf der Flucht vor heranrückenden Truppen. Und er suchte das Abenteuer: Er drang in die Gletscherwelt des Monte Rosa, eines 4000ers vor. Er zog an der Seite des Feldherrn Cesare Borgia, einem für seine Brutalität gefürchteten Sohn des Papstes, in den Krieg. Er musste sich wegen seiner Homosexualität vor Gericht verantworten (und wurde freigesprochen). Dreimal wagte er einen völligen Neuanfang – mit 30, 50 und noch einmal mit 60 Jahren. Leonardo erlebte Triumph und Scheitern, kannte Existenzangst und grenzenlosen Luxus, er wurde verachtet und als göttlich verehrt.
Sein Leben erscheint voller Widersprüche. Leonardo war stolz darauf, dass er als Maler, anders als die Bildhauer, sich bei der Arbeit nicht die Hände beschmutzen musste - aber sezierte Dutzende verwesender Leichen. Er bekundete eine hohe moralische Gesinnung als Vegetarier und Pazifist – und stellte sich in den Dienst blutrünstiger Tyrannen, für die er Massenvernichtungswaffen entwickelte. Selbst vor der Idee eines Giftgasangriffs schreckte er nicht zurück. Er zeigte sich gegenüber der Religion zeitlebens kritisch, wofür man ihn sogar einen Häretiker schimpfte – dennoch schuf Leonardo Gemälde, aus denen eine tiefe Gläubigkeit spricht. In hohem Alter schloss er sich sogar einer Ordensgemeinschaft an.
Das meiste, was über Leonardo bekannt ist, wissen wir von ihm selbst. Gut 6000 von einst wohl über 10.000 Manuskriptseiten von ihm sind erhalten, das entspricht dem Umfang einer kleineren Enzyklopädie. Manchmal auf riesigen Bögen, oft in Notizbüchern kleiner als ein Handteller hat der Meister buchstäblich alles niedergeschrieben, was ihm durch den Kopf ging: Ideen und Träume; Prophezeiungen und eine Lebensphilosophie, Theorien über den Ursprung der Welt, Pläne für Bücher, selbst Einkaufslisten hatte er notiert. Vermutlich trug der Meister seine Notizbücher am Gürtel festgeschnallt, jedenfalls muss er sie ständig mit sich geführt haben, damit sich kein Gedanke verflüchtigen konnte. Selten hat ein Mensch so vollständig die Regungen seines Geistes erfasst.
Die Aufzeichnungen dokumentierten auch das innere Selbstgespräch eines einsamen Mannes, seine Angst, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, und sein Wissen um die Kosten des Ruhmes: „Als der Feigenbaum ohne Frucht da stand, sah keiner ihn an. Im Wunsch, Früchte zu tragen und Lob zu bekommen, ließ er sich von Menschen verbiegen und brechen.“ Die Manuskripte bieten dem, der sie versteht, nichts weniger als eine Innenansicht von Leonardos Gehirn.
Auf den meisten Seiten spielt der Text aber nur eine untergeordnete Rolle. Viel mehr Raum nehmen Zeichnungen ein: Entwürfe für Gemälde und riesige Reiterstatuen, Bilderrätsel, geometrische Studien und natürlich Skizzen der menschlichen Organe. Manche seiner Entwürfe nehmen die Technik späterer Epochen vorweg: So plante Leonardo Flugmaschinen mit dem aerodynamisch richtigen Flügelprofil. Wie Versuchen mit Nachbauten vor kurzem bewiesen, fliegen manche dieser Geräte tatsächlich. Andere Skizzen zeigen Automaten von Menschengestalt und durchtunnelte Berge. Und minutiöse Grafiken zeigen Landschaften und Städte Italiens so, wie ein Betrachter aus dem Weltraum sie sähe.
Leonardo allerdings machte es seinen Lesern nicht gerade leicht. Dass er grundsätzlich in Spiegelschrift schrieb, gehört noch zu den kleineren Hindernissen, seit es Transkriptionen in Druckschrift gibt. Schlimmer ist, dass seine Aufzeichnungen keiner Ordnung folgen. Er notierte, was ihn gerade beschäftigte, und weil es in seinem Kopf unablässig gebrummt haben muss, sind seine Blätter oft ein Wirrwarr von Dutzenden Ideen zu den verschiedensten Themen. Als dann noch Händler nach dem Tod des Meisters die Manuskripte auseinander rissen und die Fragmente über aller Herren Länder verstreut wurden, war das Durcheinander perfekt. Die Handschriften waren nun unverständlich, und Leonardo wurde zum Mysterium – bis die Manuskripte in jüngster Zeit rekonstruiert wurden.
Mark Rosheim gehört zu den Fachleuten, die versuchen, den Meister aus heutiger Sicht zu verstehen. Der Ingenieur lebt in der amerikanischen Stadt Minneapolis in einem hellgrünen Holzhaus, das dem Besucher sofort ins Auge springt, weil ihn an der Vorgartentreppe ein Roboter aus Blechbüchsen begrüßt: Rosheim konstruiert Roboter, die er unter anderem an die US-Weltraumbehörde NASA verkauft. Bei Untersuchungen über ein Roboter-Schultergelenk stieß er vor Jahren auf Leonardos anatomische Studien und war fasziniert von ihrer Präzision. Seither ließ Leonardos Werk ihn nicht mehr los.
In seinem Wohnzimmer präsentierte Rosheim mir einen schwarzen, auf drei Rädern befestigten Holzrahmen, der ein Gewirr aus ebenfalls hölzernen Zahnrädern, Federn, Nockenscheiben und Hebeln enthielt. Das Ganze war ungefähr so groß wie eine Palette und erinnerte an ein riesiges Uhrwerk. Rosheim zog eine Feder auf, stellte das Wägelchen zurück auf den Boden und ließ es los. Das Gefährt begann sich zu bewegen, fuhr ein Stück weit geradeaus, schlug eine Kurve und legte dann einen kühnen, doch präzisen Slalom zwischen Sofa, Stehlampe und Kamin hin. Rosheim fing es wieder ein, machte sich am Mechanismus zu schaffen und wechselte ein paar Nocken aus. Wieder aufgezogen, nahm der Wagen nun einen anderen Kurs über den Teppich. „Sie sehen den vermutlich ältesten programmierbaren Automaten der Welt“, erklärte Rosheim. Er selbst habe ihn nach Plänen des jungen Leonardo zusammengebaut.
Leonardo ein Robotiker? Ich konnte meine Zweifel schlecht verbergen. Fälschlich pries man ihn ja auch als den Erfinder von Helikopter und Fahrrad. Rosheim erklärte, die Zeichnung des aufziehbaren Wagens hätten die Kunsthistoriker früher als eine selbst fahrende Kutsche gedeutet, die aber nicht funktionieren konnte. Dann aber schaltete Carlo Pedretti sich ein, der Altmeister unter den Leonardoforschern. Er äußerte die Idee, dass Leonardo sich kein Automobil, sondern einen Automaten ausgedacht habe.
Von einer solchen Maschine berichten mehrere Zeitzeugen tatsächlich. Übereinstimmend schildern sie einen mechanischen Löwen, den Leonardo als Geschenk für den neuen französischen König konstruiert habe. Das Tier habe beim Einzug des Monarchen in Lyon 1515 einen fulminanten Auftritt gehabt: Es lief ein paar Schritte, stellte sich dann auf die Hinterbeine und riss sich die Brust aufgerissen. Daraufhin brachte der Löwe einen Strauß Lilien, die Wappenblume des französischen Herrscherhauses, zum Vorschein.
Rosheim ist überzeugt, dass sein Federwagen nichts anderes ist als der Antrieb des mechanischen Löwen. Die programmierbare Steuerung diente also dazu, das Tier komplizierte Bewegungen ausführen zu lassen – und die Illusion zu erwecken, dass der Löwe laufe, während er in Wirklichkeit rollte.
Von diesem Erfolg beflügelt machte sich Rosheim an eine noch spektakulärere Rekonstruktion. Stolz führte er mich in seine Küche. Dort stand in der Spüle ein Zylinder, der in regelmäßigen Abständen Wasser aus verschiedenen Rohren spuckte. Während Rosheim das Gerät vorführte, tropfte es von seinen Hemdsärmeln, doch vor lauter Begeisterung nahm er es gar nicht wahr. Kopple man 24 solcher Zylinder, erklärte er, habe man den Taktgeber für eine digitale Uhr. Anders verschaltet würde eine mit Wasser statt mit Strom betriebene Rechenmaschine daraus. Rosheims kühnes Fazit: „Leonardo entwarf den ältesten digitalen Computer der Menschheit.“ Tatsächlich enthalten die Handschriften das Konzept einer solchen Maschine; zweifelhaft bleibt nur, ob Leonardo sie je baute.
Kein Zweifel hingegen besteht an einer der erstaunlichsten Leistungen Leonardos, die Wissenschaftler in den letzten Jahren entdeckten: eine Expedition ins menschliche Herz. Auf mehreren bläulich getönten Blättern aus dem Nachlass des Meisters finden sich Zeichnungen schneckenförmiger Wirbel. Notizen in Spiegelschrift erklären die rätselhaften Diagramme als Strömungslinien des Bluts, wenn dieses die linke Herzkammer verlässt. Zudem behauptete Leonardo, dass eben diese Wirbel die Herzklappe zudrücken würden, damit das Blut nicht zurück ins erschlaffende Herz strömen kann.
Wie konnte er das wissen? Das Blut fließen zu sehen, ist unmöglich, denn in ein schlagendes Herz kann man nicht schauen. Noch Jahrhunderte nach Leonardo hatten Wissenschaftler keine genaue Vorstellung davon, was sich am Ausgang des Herzens wohl abspielen mag. Erst im Jahr 1998 fand das Rätseln ein Ende, als es amerikanischen und britischen Forschern schließlich gelang, mit hochmodernen Computertomographen und Laserapparaturen Bilder von den Blutströmungen im lebenden Herzen zu gewinnen. Sie fanden die Verhältnisse genau so, wie von Leonardo beschrieben.
Morteza Gharib ist eine Kapazität auf diesem Gebiet; der Biophysiker von der kalifornischen Universität Caltech hat künstliche Herzen, verbesserte Herzklappen und ähnliche Dinge erfunden. Ihm habe der Atem gestockt, als er zum ersten Mal Leonardos Zeichnungen vom Blutfluss an der Aortenklappe gesehen habe, sagt Gharib: „Leonardo muss Versuche angestellt haben. Nur so konnte er zu diesen Einsichten kommen.“
Gharib suchte in den Aufzeichnungen des Meisters nach Belegen für seine Vermutung – und wurde fündig: Leonardo beschrieb die Herstellung eines künstlichen Herzens. „Blase dünnes Glas in eine Gipsform und zerbrich dann die Form. Aber erst gieße Wachs in den Ausgang eines Rinderherzens, damit du die wahre Form dieses Ausgangs bekommst“, heißt es auf einem der blauen Papiere. An anderer Stelle erklärte Leonardo, wie sich die Strömungen im Glasherz sichtbar machen ließen: indem man Hirsesamen in die Flüssigkeit streut.
In seinem Labor baute Gharib einen künstlichen Herzausgang nach Leonardos Skizzen, doch statt mit dem bloßen Auge verfolgte er die Bewegungen mit einer komplizierten Laser-Messapparatur. Am Ende erschienen auf Gharibs Computerbildschirmen genau die Stromlinien, die der Meister mehr als 500 Jahre zuvor aufgezeichnet hatte. Tief demütig habe er sich in den Tagen dieser Experimente immer wieder gefühlt, sagt der Forscher: „Leonardos Blick war so scharf, dass er mit dem Zeichenstift Zusammenhänge erfasste, die andere Wissenschaftler erst viele Generationen später in Gleichungen zu gießen verstanden.“
Doch das schärfste Auge wäre hilflos gewesen ohne Kombinationstalent. Jahrzehnte zuvor hatte sich Leonardo mit der Strömung an Schleusentoren befasst. Jetzt wusste er, wonach er im Herzen suchen musste, denn das Blut sollte sich ähnlich verhalten wie das Wasser in einem Kanal: Nach einer Engstelle baut sich ein Kehrwasser auf; Wirbel entstehen, die das Schleusentor von außen zudrücken können. Als Wasserbauingenieur musste er diesen Effekt verhindern - die Natur jedoch hatte ihn beim Herzen geschickt ausgenutzt.
Damit offenbart Leonardos Erforschung des Herzens zugleich eines der Geheimnise seines Denkens. Statt von der Oberfläche eines Problems immer mehr in die Tiefe zu dringen, bewegte er sich gewissermaßen quer zu den Schichten – wie ein Fassadenkletterer, der ein Gebäude erstiegen hat und von dort horizontal über die Balkone in ein anderes Haus eindringt. Das einzigartige Zeugnis seiner Notizbücher ermöglicht es heute, Schritt für Schritt Leonardos Gedanken zu folgen. Und die Faszination seiner Handschriften erschöpft sich nicht darin, einen der ungewöhnlichsten Menschen, den es je gab, gleichsam von innen her kennen zu lernen. Denn Leonardo gibt auch den Blick frei auf die Methoden, die ihn zu seinen Erfolgen führte. So beschreibt er, wie es ihm möglich war, zweihundert Jahre vor Entdeckung der Gesetze der Schwerkraft den Flug von Kanonenkugeln vorauszubestimmen Und im Ton einer Anweisung an seine Schüler erklärt er die Strategien, denen er seinen Einfallsreichtum verdanke.
Viele von Leonardos Empfehlungen erscheinen uns ungewohnt in einer Welt, die sich rasend schnell immer weiter spezialisiert. Doch die vertraute Weise, Probleme durch Zergliedern in immer kleinere Fragen zu lösen, hat uns tief in eine Sackgasse geführt. Und fraglich ist, ob sie genügt, um den Ausweg zu finden. Spezialisten allein können die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen. So ist es an der Zeit, von Leonardo zu lernen – nicht als Ersatz für die moderne Weise zu denken, sondern um sie zu ergänzen.