Eine neue Kultur der Zeit

Stefan Klein über die Kostbarkeit des Augenblicks und wie gefühlte Zeit, Glück und Zufriedenheit zusammen hängen

 

BRIGITTE: Nie hatten wir so viel freie Zeit wie heute – und klagen ständig darüber, keine Zeit zu haben. Warum?

 

Stefan Klein: Unsere Gesellschaft basiert darauf, dass Arbeitszeit verkauft wird, und ein Gut ist umso wertvoller, je knapper es ist. Keine Zeit zu haben ist ein Status-Symbol, bedeutet Macht, Bedeutung, Wichtigkeit: Ich kann andere warten lassen, viele Vorgesetzte machen das ja. Wer keine Zeit hat, zeigt, dass er gefragt ist. Das war nicht immer so. Ein Adliger vor ein paar hundert Jahren hätte uns für völlig bescheuert erklärt: Wer keine Zeit hatte, musste arbeiten und war ganz arm dran.

Wir empfinden heute aber tatsächlich mehr Zeitdruck, nicht unbedingt, weil wir so viel zu tun haben, sondern weil es schwieriger geworden ist, die Zeit befriedigend einzusetzen. Neu ist auch, in welchem Maß sich das öffentliche Leben beschleunigt. Derzeit nimmt das Tempo schneller zu als sich die Menschen Strategien aneignen können, um mitzuhalten.

 

Was gewinnen wir durch das hohe Tempo?

 

Wir haben mehr Möglichkeiten, wir gewinnen Freiheit. Wenn Sie es wollen, können Sie in drei Stunden in Spanien am Strand liegen. Der Preis dafür: Wir müssen zwischen den vielen Möglichkeiten immer mehr auswählen, heraus finden, was uns wichtig ist, entscheiden, was wir mit unserer Zeit anfangen. Aber das bedeutet auch zu verzichten, und damit tun sich viele Menschen schwer. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir durch den Faktor Zeit eingeschränkt – viel mehr als durch Geld oder Bildung.

 

Was meinen Sie mit „Auswählen“?

 

Bei einer Sache zu bleiben, zum Beispiel. Wir leben in einer so hohen Dichte von Reizen, das wir ständig verführt sind, von einer Wahrnehmung und einer Aktivität zur nächsten zu springen. Es gibt Untersuchungen in deramerikanischen Computerindustrie, da wechseln die Beschäftigten im Schnitt alle drei Minuten ihre Tätigkeit. Das ist wahnsinnig anstrengend, dafür ist unser Gehirn nicht geschaffen. Durch diese hohe Reizdichte folgen wir einem Zeittakt, der uns gar nicht entspricht, wir sind fremd gesteuert – Skalven der Reize, die von Außen kommen. Statt uns auf eine Sache zu konzentrieren, versuchen wir mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.

 

Was uns mehr Zeit kostet, als wir zu sparen glauben, sagen Sie. Warum?

 

Weil wir für alles, was wir bewusst tun, unser Arbeitsgedächtnis brauchen, dort werden die Informationen, die wir jetzt gerade brauchen, zwischengespeichert. Die Aufnahmefähigkeit dieses Speichers ist aber sehr gering. Wir können uns zwar unterhalten und Auto fahren, weil wir das automatisch tun. Aber wir können nicht telefonieren und gleichzeitig eine E-Mail schreiben, das ist nur eine Illusion. Tatsächlich kratzen wir uns Informationen, die wir für das Gespräch brauchen aus anderen Hirnregionen und laden sie in unseren Arbeitsspeicher, dann schreiben wir an unserer E-Mail und die Info fliegt zu Gunsten einer neuen Info, die wir jetzt für die Mail brauchen, wieder raus. Immer hin und her, das kostet Zeit. Darum brauchen wir so für beide Aufgaben mehr Zeit, als wenn wir sie nacheinander bearbeiten würden, und wir machen mehr Fehler. Nicht mal Ihr Computer kann zwei Programme gleichzeitig erledigen. Er tut nur so, innerhalb einer Sekunde schaltet er tausendfach hin und her. Wir versuchen, Zeit zu gewinnen, verlieren aber tatsächlich das Gefühl für die Zeit und die Kontrolle über unsere Zeit.

 

Können wir denn Zeit überhaupt fühlen?

 

Wir haben mindestens zwei innere Uhren. Eine davon steuert uns automatisch durch den Tag, die 24-Stunden-Uhr. Sie besteht aus zwei etwa reiskorngroßen Hirnregionen und funktioniert nach dem Prinzip einer Sanduhr, nur chemisch – wie ein Gefäß, das mit einer Substanz angefüllt wird, die im 24 Stunden Rhythmus wieder abgebaut wird.

Die Sekunden-Uhr hingegen steuert unsere Bewegungen. An der Unterseite des Großhirns und im Kleinhirn gibt esNervenzellen, die in bestimmten Takten Impulse geben. Diese Uhr steuert vor allem unsere Muskeln und unsere Bewegungen.

In einem berühmten Selbstversuch hat sich ein französischer Forscher 60 Tage in eine Höhle eingesperrt, dem ist in der Dunkelheit das Zeitgefühl völlig abhanden gekommen, obwohl er einen Tag-Nacht-Rhythmus von ziemlich genau 24 ein halb Stunden befolgt hat – allerdings ohne es zu merken. Das Problem ist also: Wir haben zwei sehr genau gehende innere Uhren. Aber leider ist das Gehrin so eingerichtet, dass wir sie nicht ablesen können.

 

Wie wir Zeit erleben, hat also wenig damit zu tun, was uns die innere Uhr – oder auch die am Handgelenk – vorgibt.

 

Ja, Zeit erleben wir nur, wenn etwas geschieht. Alles hängt davon ab, wie viel Information wir bewusst aufnehmen und erinnern. Das Phänomen kennen wir aus dem Urlaub.Der erste Tag scheint wie nichts zu vergehen, weil wir so sehr mit neuen Sinneseindrücken beschäftigt sind, dass wir auf die Zeit gar nicht achten. Wenn wir aber am Abend aber unsere Erinnerung Revue passieren lassen, erscheint uns der Morgen unendlich weit weg, weil wir so viele Informationen abgespeichert haben und aus dieser Fülle von Informationen rekonstruieren wir uns dann ein Gefühl der Zeit – im Rückblick erscheint uns dieser Tag unendlich lang.

 

Aber gerade im Urlaub vergeht die Zeit doch wie im Flug.

 

Nach drei Wochen am selben Ort kehrt sich der Effekt um: Wir entdecken immer weniger Neues und achten mehr darauf, wie die Zeit vergeht. So scheint dieGegenwart scheint langsamer zu verstreichen. Wenn Sie nun aber am Abend über den Tag nachdenken, erscheint er uns kürzer, weil wir weniger neue Informationen abgespeichert haben. Je älter wir werden, desto schneller scheint die Zeit im Rückblick zu vergehen – der gleiche Effekt.

Sie sagen, dass wir unser Zeitgefühl ganz bewusst steuern und kontrollieren können. Wie geht das?

 

Durch Schulung der Wahrnehmung und indem ich mir bewusst mache, wie kostbar der Augenblick ist. Der amerikanische Schriftsteller Paul Bowles schrieb über den Irrtum, zu glauben, dass sich die Augenblicke in unserem Leben unendlich oft wiederholen würden. Das ist nicht so. Wie oft erleben wir einen aufgehenden Vollmond, wie oft eine besondere Begegnung? Fünf mal, zehnmal? Aber keinesfalls unendlich oft. Wenn wir uns dieser Kostbarkeit des Augenblicks bewusst werden, ändert sich unsere Wahrnehmung. Je mehr wir von einem Augenblick wahrnehmen und erleben, desto mehr Zeit fühlen wir.

 

Statt dessen denken wir: prima, schöner Vollmond, morgen um sieben kommt der Klempner, wenn er bis acht fertig ist, schaffe ich es vor der Arbeit noch aufs Einwohnermeldeamt, um meinen neuen Reisepass abzuholen...

 

Genau. Indem wir unserer Zeit mehr Leben geben, geben wir unserem Leben mehr Zeit. Und damit meine ich nicht nur Augenblicke sondern auch größere Zeiträume. Wie wir solche Zeitspannen erleben, hängt eben auch davon ab, wie viel bedeutungsvolle Dinge wir erleben. Und das haben wir selbst in der Hand. Ich meine nicht platte Abwechslung oder Zerstreuung, sondern Erlebnisse und Erfahrungen, die uns etwas bedeuten, weil sie mit uns selbst zu tun haben.

 

Wir schaffen doch kaum unser normales Alltags-Pensum, jetzt sollen wir auch noch bedeutungsvolle Erfahrungen machen...

 

Es geht nicht um noch mehr Aktivität, hektische Tage vergehen wie im Nu, wir können uns kaum an sie erinnern. Es geht im Gegenteil darum, weniger zu tun, eben auszuwählen: Was ist mir so wichtig, dass ich bereit bin, meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit darauf zu richten. Wir sind nicht gestresst, weil wir keine Zeit haben. Es verhält sich umgekehrt: Wir haben keine Zeit, weil wir gestresst sind.

 

Wo soll da der Unterschied sein?

 

Hoher Zeitdruck allein löst keine Stress-Reaktion aus. Kennen wir alle vom Auto fahren, da müssen wir binnen Zehntelsekunden entscheiden, was zu tun ist, bremsen, anfahren – das stresst uns im Normalfall überhaupt nicht, machen wir automatisch. Auch im Job gilt – das zeigen alle Untersuchungen – dass weder Arbeitszeit, Arbeitspensum noch Zeitdruck für sich Stress auslösen. Entscheidend ist das Ausmaß an Kontrolle, das Menschen über das haben, was sie tun – oder glauben zu haben. Es gibt eine große Studie aus England, die gezeigt hat, dass Stress bedingte Krankheiten und der subjektiv empfundene Stress bei Angestellten abnehmen, je höher die Leute in der Hierarchie stehen.

 

Das Bild vom gestressten Manager ist reine Legende?

 

Ja, wer unter Stress leidet, wer vom Stress krank wird, das ist viel eher die Kassiererin im Supermarkt oder der Fließbandarbeiter. Das hat mit Ohnmacht zu tun, mit Hilflosigkeit, mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, keine Wahl zu haben, die Ergebnisse seines Verhaltens nicht bestimmen zu können und letztlich auch nicht über seine Zeit. Und jetzt passiert etwas ganz fatales: Stress wirkt sich ganz unmittelbar auf unsere Fähigkeit aus, uns zeitlich zu organisieren. Die dafür zuständigen Hirnregionen gehören zu den empfindlichsten und störanfälligsten des Menschen. In früheren Epochen der Naturgeschichte mag das sinnvoll gewesen sein: Da sollten wir nicht in Ruhe überlegen, was wir am sinnvollsten als nächstes tun sollen, unter Stress sollten wir einfach nur flüchten. Aber im Job oder im Alltag verlieren wir den Überblick, können uns nicht mehr konzentrieren, lassen uns ablenken, werden konfus.

 

Wir sperren uns ausgerechnet dann aus der Wohnung aus, wenn das Chaos ohnehin schon perfekt ist.

 

Genau, und nun haben wir wirklich ein Zeitproblem, und es wäre an der Zeit, sich über die Verkettung von Ursache und Wirkung klar zu werden – aber dafür fehlt uns jetzt erst recht die Zeit.

 

Sie zitieren in Ihrem Buch eine Untersuchung, in der Männer genauso viel viel Zeit im Job und im Haushalt verbrachten wie Frauen. Trotzdem klagten die Frauen über mehr Zeitmangel. Gehen Männer besser mit der Zeit um?

 

Nein. Warum sich Frauen von der Doppelbelastung stärker gestresst fühlen, dafür steht eine wissenschaftliche Erklärung noch aus. Aber man kann es vermuten: In der englischen Studie, über die ich eben sprach, hatten Mitarbeiter, die unter der Willkür ihrer Vorgesetzten litten, eine um drei Jahre verkürzte Lebensdauer – das traf aber nur auf Männer zu. Frauen haben in solchen Hierarchie-Situationen offenbar eine dickere Haut, sie fühlen sich viel weniger gestresst. Die Angestellten wurden auch gefragt: Welches Gefühl der Kontrolle habt ihr zuhause? Da litten die Frauen wesentlich stärker unter dem Gefühl, dass es nicht so läuft, wie sie es gern hätten. Da gibt es offenbar sehr unterschiedliche Empfindlichkeiten, die wir als Zeitbelastung wahrnehmen, die aber ganz andere Ursachen haben, zum Beispiel die Angst als Mutter zu versagen oder bei Männern die Angst, bestimmte Karriereziele nicht zu erreichen.

 

Dann bilden wir uns nur ein, keine Zeit zu haben?

 

Zeitdruck ist in den seltensten Fällen etwas, was uns von außen auferlegt wird, sondern resultiert daraus, wie wir unsere Prioritäten setzen. Wir nehmen lieber den Zeitdruck in Kauf als andere unangenehme Konsequenzen, zum Beispiel unseren Gästen nur zwei statt vier Gängen zu kredenzen oder unser Kind nicht mit dem perfekten Geburtstagskuchen in die Kita zu schicken. Dessen sind wir uns nicht bewusst, wir fühlen uns als Opfer von angeblich unveränderlichen und von außen auf uns wirkenden Zwängen. Aber wenn man genauer hinsieht, ist es in den meisten Fällen unsere eigene Entscheidung. Ich will nicht, dass die Kindergärtnerin die Augenbrauen hochzieht, weil ich mit einem gekauften Kuchen komme. Wenn man bereit ist, dafür Zeitdruck in Kauf zu nehmen – okay, aber es ist meine persönliche Entscheidung.

 

Dennoch: Bestimmte Zeitvorgaben können wir nicht beeinflussen, zum Beispiel Arbeitszeiten, da sind wir darauf angewiesen, dass Unternehmen uns die Möglichkeit einräumen, flexibler, das heißt unseren Bedürfnissen entsprechend zu arbeiten?

 

Natürlich ist es höchst wünscheswert – und fast immer auch machbar-, dass Firmen den Angestellten mehr Freiheit über ihre Zeit einräumen. Letztlich aber müssen die Mitarbeiter ihre Einstellung ändern. In den neunziger Jahren hat ein amerikanisches Großunternehmen genau einen solchen Ansatz versucht. Dort haben sich Personalleute Gedanken darüber gemacht, wie man vor allem den Eltern unter den Beschäftigten das Leben leichter machen kann, natürlich mit dem Ziel, sie enger an das Unternehmen zu binden. Man hat firmeneigene Kitas aufgemacht, die Eltern konnten Teilzeit oder von zuhause arbeiten – und sie hatten vor allem keine Karriere-Nachteile zu befürchten, weil dieses Programm Firmen-Politik war. Nach ein paar Jahren wurde Bilanz gezogen und es stellte sich heraus, dass nur vier Prozent der Beschäftigten von der Möglichkeit Gebrauch machten, Teilzeit zu arbeiten. Die meisten haben noch nicht einmal ihre Arbeitszeit reduziert, sondern weiter fröhlich ihre Überstunden geschoben. Nur die eigene Kita wurde genutzt. Das Unternehmen hat dann eine renommierte Soziologin gebeten, die Ursachen zu untersuchen. Sie hat hunderte von Leuten interviewt und kam zu folgender Erklärung: Die Leute fühlten sich in ihrer Firma sauwohl, fühlten sich anerkannt, fanden ihre Arbeit interessant, viele hatten ihre Freunde dort, die fanden das einfach attraktiver als mit ihren Kindern auf den Spielplatz zu gehen. Rationalisiert haben sie allerdings ihr Leben zuhause, haben versucht, ihre Kinder und ihre Partner in ganz enge Zeitraster zu packen. Nach neun bis zehn Stunden in der Firma bleibt ja auch nicht mehr Zeit. Und dann begann der Teufelskreis: Je weniger Zeit für die Familie da war, desto nerviger wurden die Kinder und die Partnerin, desto niedriger die Motivation, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen und desto höher die Motivation, statt dessen länger in der Firma zu bleiben. Das galt übrigens für Männer und Frauen gleichermaßen.

 

Wir könnten uns mehr Zeit nehmen, tun es aber nicht, lassen uns antreiben und hetzen. Warum empfinden wir Zeit als unseren Feind und nicht als unseren Freund?

 

Das hat viel mit unserer Kultur zu tun. Der Soziologe Max Weber hat gesagt: „Zeitverschwendung erscheint uns als sie schlimmste aller Sünden.“ Wir sind mit der Vorstellung groß geworden, dass wir die Zeit in jedem Augenblick nutzen müssen. Da ist es schwer, sich die Zeit zu nehmen, und einfach nur wahrzunehmen, was um uns herum passiert. Da sind wir in unserem Umgang mit Zeit sehr eindimensional geworden, wir glauben, dass jede Aktivität mit größter Pünktlichkeit und Effizienz verrichtet werden muss, mit maximaler Dichte. Für sehr viele Vorgänge in unserer Gesellschaft mag das sicher auch richtig und wichtig sein – unser Flugverkehr wäre ohne diese Maßgabe eine fortgesetzte Katastrophe. Aber in anderen Lebensbereichen ist das schlicht und einfach falsch. Wenn wir die Zeit nicht einfach mal vergessen können, werden wir keine befriedigenden Freundschaften oder Beziehungen führen können. Wir werden keine neuen Gedanken, keine Ideen haben. Wir müssen endlich anders mit unserer Zeit umgehen, wir brauchen eine neue Kultur der Zeit.

 

Wie soll die aussehen?

 

Sie beruht auf dem neuen Wissen darüber, wie wir Zeit wahrnehmen und wie unser Gehirn mit Zeit umgeht und wie wandelbar unser Zeiterleben ist. Eine neue Kultur der Zeit respektiert, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Rhythmen haben und dass es für unterschiedliche Tätigkeiten unterschiedliche Rhythmen gibt. Dass nicht jeder Umgang mit Zeit mit dem Kalender oder der Uhr gemessen werden soll. Eine neue Kultur der Zeit bedeutet eine Gesellschaft, die jedem Einzelnen eine größere Souveränität im Umgang mit seiner Zeit zugesteht. Viel mehr Freiheit, seine Arbeitszeit selbst zu gestalten. Aber auch mehr Bereitschaft jedes Einzelnen, diese Freiheit zu nutzen. Den Tagesablauf den persönlichen Eigenheiten anzupassen – wir wissen, dass das Merkmal „Frühaufsteher“ bzw. „Nachtmensch“ im wesentlichen genetisch bedingt ist und man täte den Menschen und die Menschen täten sich selbst etwas gutes, wenn das mehr respektiert würde. Eine neue Kultur der Zeit bedeutet viel mehr als bisher die Bedeutung des Augenblicks zu schätzen – in unserer Kultur ist die Dauerhaftigkeit ein Wert an sich; ein Bauwerk ist je ehrwürdiger je älter es ist. In Japan hingegen, in einer Kultur, die viel mehr auf den Augenblick gerichtet ist, werden die bedeutendsten Heiligtümer alle zehn Jahre abgerissen und neu gebaut. Wir sind sehr stark mit unserer Vergangenheit und unseren Plänen für die Zukunft beschäftigt, was nicht grundsätzlich schlecht ist, aber wir vergessen darüber oft die Gegenwart, den Augenblick.

 

Was angesichts einer Fülle von Verpflichtungen kein Wunder ist.

 

Sicher, aber eine neue Kultur der Zeit bedeutet auch, sich nicht von jedem neuen Reiz, der uns begegnet, fesseln zu lassen, sondern bewusster mit unserer Wahrnehmung umzugehen.

Und vor allem: Das, was sich uns als Zeit-Stress darstellt, ist in den meisten Fällen kein Mangel an Zeit, sondern resultiert aus der Angst, Ansprüchen nicht zu genügen. Entscheidend ist das Maß an Kontrolle, das wir über unsere Entscheidungen und damit auch über unsere Zeit haben. Dann sehen wir uns auch nicht mehr der Zeit hilflos ausgesetzt, sondern bestimmen selbst über unsere Zeit.

 

Interview: Mark Kuntz

Aus: Brigitte 18/06