"Zufall als Chance"
BRIGITTE: Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, habe ich mein Leben noch mal neu betrachtet. Und Sie haben absolut Recht: Meine Arbeit, sämtliche Lieben und alle Wohnungen verdanke ich ursprünglich einem Zufall. Das macht mich aber nicht froh. Jetzt sieht meine Vergangenheit so beliebig aus.
STEFAN KLEIN: Aber nicht zufällig ist es, ob Sie mit dem Partner zusammengeblieben sind oder Ihre Arbeit behalten haben. Das haben Sie ja selbst in der Hand. Zufälle sind Auslöser für wichtige Lebensereignisse. Aber Menschen haben tatsächlich ein ganz starkes Bedürfnis, überall nach Regeln und höheren Plänen zu suchen. Wir sehnen uns nach einem Sinn. Das hat mit der evolutionären Programmierung unseres Gehirns zu tun. Wer alles für Zufall hält und keine Zusammenhänge herstellt, kann nicht lernen. Wenn Sie über eine Straße gehen, dürfen Sie nicht glauben, dass es zufällig ist, dass die Autos stehen bleiben, wenn die Ampeln rot sind. Und wenn Sie als Kind geglaubt hätten, die Erwachsenen in Ihrer Umgebung brabbeln zufällig irgendwelche Silben vor sich hin, hätten Sie nie sprechen gelernt. Ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Zufall ist notwendig, um klüger zu werden.
Wie kamen Sie denn auf die Idee, den Zufall zu untersuchen?
Ich habe mich als Kind schon gefragt, ob es mich eigentlich gegeben hätte, wenn bestimmte Situationen im Leben meiner Eltern anders verlaufen wären. Diese Frage hat mich geradezu beunruhigt. Dann spielte in meinem Beruf als Biophysiker der Zufall und seine möglichen Gesetzmäßigkeiten eine große Rolle. Und schließlich hat sich die Wissenschaft in den letzten Jahren viel damit beschäftigt, was wir überhaupt begreifen können - und was nicht. Zufall ist also nicht nur in unserem Leben, sondern auch in der Natur von hoher Bedeutung. Mich hat es neugierig gemacht, zu sehen, wie man mit Zufällen besser umgehen kann.
Und dennoch haben Sie Ihr Buch Ihrer Tochter gewidmet, "die kein Zufall ist".
Wie die meisten Menschen habe ich auch ein ambivalentes Verhältnis zum Zufall. Dass dieses Kind ein Mädchen geworden ist, dass sie im März auf die Welt gekommen ist, das ist ein Zufall. Aber dass meine Frau und ich uns ein Kind gewünscht und bekommen haben, das ist kein Zufall. Ich glaube, es gibt immer ein Wechselspiel zwischen dem Zufälligen einerseits und unseren Wünschen und äußeren Bedingungen andererseits. Wir neigen allerdings dazu, unsere Fähigkeit maßlos zu überschätzen, alles voraussehen und planen zu können.
Und wo bleibt,wenn alles Zufall ist, die Romantik? Wenn der Mann meines Lebens mir per Zufall ins Haus geschneit kommt, anstatt dem Ruf seines (oder meines) Herzens zu folgen, dann finde ich das schon ein wenig ernüchternd.
Aber es bleibt Ihnen doch unbenommen, Ihrer Liebesgeschichte den Sinn zu geben, den Sie möchten. Es ist nur gut, sich gelegentlich bewusst zu machen, dass wir es sind, die uns im Nachhinein Zusammenhänge oder Mythen konstruieren. Ein Sinn ist nicht einfach da, wir erschaffen ihn für uns selbst.
Wollen wir sortieren, welche Zufälle es gibt? Die glücklichen, die dummen, die banalen...
Was macht Sie so sicher, dass ein Zufall gut oder dumm ist? Angenommen, Sie verpassen einen Flug zu einem Bewerbungsgespräch, weil Sie im Stau stehen. Dummer Zufall, kännten Sie sagen. Aber vielleicht sitzt im nächsten Flugzeug eine Person neben Ihnen, die so interessant ist, dass sich eine langjährige Freundschaft daraus entwickelt. Wir denken in gewohnten Bahnen, und wenn ein Zufall unsere Pläne durchkreuzt, ärgern wir uns. Eine bessere Strategie wäre es doch, den Zufall als Chance für etwas Neues zu sehen.
Neu wäre der Freund, aber den Job habe ich verpasst.
Wer sagt Ihnen, dass der Job so toll gewesen wäre? Vielleicht finden Sie, weil es mit dieser Arbeit nicht geklappt hat, stattdessen eine bessere. Ich glaube, es ist um Umgang mit Zufällen angemessen, an die Möglichkeiten zu denken, die wir noch gar nicht sehen können. Wir unterschätzen das Maß an Verknüpfungen in der Welt. Wenn wir den Zufall höher schätzen würden, kännten wir leichter und gelassener leben. Außerdem würden wir uns viel nutzloses Grübeln ersparen.
Mit viel Vergnügen habe ich Ihr Kapitel über Spieler gelesen, die ihre Gewinnchancen beim Lotto, Roulette oder an der Börse errechnen wollen. Wenn ein Spieler nun liest, dass diese Rechnungen nie aufgehen, glauben Sie, dass er aufhört, zu spielen?
Wenn er Geld damit verdienen will, hört er hoffentlich auf. Die den Nervenkitzel im Spiel suchen, werden sicher weiter spielen. Ein amerikanischer Hirnforscher hat einmal gesagt: "Wer den Zufall aus seinem Leben verbannt, nimmt sich das Beste, was es gibt." Wir können aus dem Unvorhersehbaren einen großen Genuss ziehen, und auch das hat mit unserem Gehirn zu tun. Wenn wir überrascht werden, wird Dopamin ausgeschüttet. Dieses Hormon macht das Gehirn hellwach, es will sich einprägen, was gerade passiert. Solche Momente absoluter Konzentration empfinden Spieler als Rausch.
Andere wollen nicht überrascht werden und befragen Horoskope oder Karten, um zu wissen, was das Schicksal mit ihnen vor hat.
Psychologen haben gezeigt, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung an Vorsehung glaubt. Diese Menschen suchen nach verborgenen Plänen, nach Mustern und magischen Zusammenhängen. Vor einer gewissen Sehnsucht nach höheren Mächten sind selbst die skeptischsten Menschen nicht gefeit. Der berühmte Physiker Niels Bohr, der als einer der Ersten die enorme Rolle des Zufalls im Reich der Atome erkannt hat, hatte über der Tür seines Ferienhauses ein Hufeisen hängen. Als Kollegen ihn erstaunt fragten, was das denn solle, sagte er: Das hilft auch, wenn man nicht daran glaubt.
Bloß beweisen kann man es nicht, oder?
Niemand kann Ihnen widersprechen, wenn Sie einen unerwarteten Glücksfall Ihrem Talisman zuschreiben. Diese überraschende Einsicht verdanken wir der strengsten Wissenschaft überhaupt, der mathematischen Logik: Man kann den Zufall nicht beweisen. Sie können nur beweisen, dass etwas nicht zufällig geschah, aber nie das Gegenteil. Keine Wissenschaft wird also den Glauben an eine Vorsehung widerlegen kännen - wenngleich andererseits auch nichts dafür spricht.
Manche Menschen entwickeln aus Zufälligem fixe Ideen. Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Leute über die Zahl Elf spekulieren. Am 11.9. waren die Anschläge in New York, am 11. März das Attentat in Madrid....
... und "George W. Bush" besteht auch aus elf Buchstaben. Man weiss, dass Menschen in Stress oder Angst magisch werden. Das bedeutet nicht, dass sie verzaubert sind, sondern das Gehirn sucht fast zwanghaft nach Regeln und Strukturen, um eine schnelle und einfache Antwort zu finden. Grundsätzlich ist das sinnvoll, sonst kännten wir uns in der Welt nicht zurecht finden. Gerade wenn wir verunsichert sind, schießt das Gehirn allerdings oft übers Ziel hinaus.
Ordnung muss sein, haben unsere Eltern gesagt. Aber der Zufall bringt alles durcheinander. Wieviel Unordnung tut wann und wem gut?
Bei Steuererklärungen tut Unordnung nicht so gut. Doch wenn Sie etwas Neues entwickeln wollen, kann ein gewisses Maß an Unordnung sehr hilfreich sein. Unser Gehirn ist ein großer Vereinfacher, es denkt in den Bahnen, die es schon kennt. Erst wenn etwas Unerwartetes geschieht, verlässt es sein gewohntes Denken. Da können Orakel wie Tarotkarten durchaus nützlich sein: Ich sehe in den zufällig aufgeblätterten Bildern, was ich sehen will. Um auf neue Ideen über uns und die Welt zu kommen, benätigen wir solche Anregungen.
Wieviel Unerwartetes erträgt denn ein Mensch?
Wir sind unterschiedlich neugierig oder risikobereit. Vermutlich hat das mit dem individuellen Hirnstoffwechsel zu tun. Man hat Kinder mit 10 Jahren und 40 Jahre später noch einmal getestet, und festgestellt, dass Neugier und Risikobereitschaft zu den konstantesten Persönlichkeitsmerkmalen gehören. Neugierige Menschen können natürlich Zufälle besser genießen.
Müssen wir den Zufall nicht auch deshalb als Chance neu entdecken, weil alle politischen und privaten Sicherheiten brüchig werden?
Das stimmt. Je komplexer und vernetzter eine Gesellschaft wird, desto mehr Unerwartetes geschieht. In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft konnte man sich auf einen sicheren Wohlstand noch verlassen. Heute werden selbst hochqualifizierte Angestellte arbeitslos. Es gibt Krankheiten wie Sars oder Aids, mit denen niemand gerechnet hätte. Und keiner konnte die weltweiten Folgen nach dem 11. September 01 vorhersehen. Aber die Komplexität einer Gesellschaft ermöglicht auch viele neue Chancen. Sie können als Setzerin anfangen und werden, wie vor Jahren Andrea Fischer, Gesundheitsministerin. Sie können Ihrem Sohn im Café eine Geschichte aufschreiben und zur reichsten Frau Englands werden, wie die Autorin von Harry Potter. Zufall und Unsicherheit sind auch Kinder der Freiheit, in der wir leben. Genau deshalb sollten wir uns den Zufall zum Freund machen.
Der Zufall - ein Freund, ist das nicht paradox? An Freunden schätzt man Treue und Verlässlichkeit. Aber mit dem Zufall kann man doch nicht rechnen.
Ein Freund, der immer zur Stelle ist, wenn man ihn ruft, ist auf Dauer vielleicht auch ein bisschen langweilig. Ich glaube, auch Freunde mögen wir, wenn sie uns ab und zu mal überraschen.
Ich glaube, dass wir im Alltag schon ganz oft alles Möglich auf uns zukommen lassen. In "Patchwork"-Familien kommen Menschen zusammen, die nicht verwandt, aber nun zufällig Angehärige werden. Jugendliche verabreden sich spontan und sehr zufällig per Handy für dieses oder jenes Event.
Unser soziales Leben hat sich tatsächlich verändert - und mit ihm interessanterweise das Zeitgefühl. Gerade Jugendliche leben extrem in der Gegenwart. Das erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit. Und das ist eigentlich der größte Gewinn, den der Zufall uns bietet, wenn wir uns auf ihn einlassen: das Wahrnehmen des Augenblicks.
Ein wunderbares Training, um fit für den Zufall zu werden, ist auch die Internet-Recherche. Man gibt einen Suchbegriff ein, und auf vielen Umwegen kommt man zu überraschenden Informationen.
Ganz genau. Im Prinzip haben Sie hier das ganze Wissen aller Computer auf der Welt vor sich. Aber weil die Flut von Informationen so groß ist, können Sie nicht den Überblick haben, um das Suchen zu planen. So gehen inzwischen sogar Wissenschaftler vor: Zufälliges Suchen bringt oft die besten Ergebnisse. Der Blick ist durch keine Vorurteile verstellt - zudem findet man häufig etwas, wonach man gar nicht gesucht hat.
Hat die ausführliche Beschäftigung mit dem Zufall eigentlich Ihr eigenes Verhältnis zu unerwarteten Begebenheiten verändert?
Unbedingt. Entscheidend ist für mich die Erkenntnis, wie sehr wir überschätzen, was wir voraus planen können, und wie sehr wir unterschätzen, wie anpassungsfähig wir sind. Und daraus können Sie Strategien für den Umgang mit dem Zufall ableiten. Der Mensch hat überlebt, weil er das flexibelste Geschöpf ist, welches die Evolution hervorgebracht hat. Und was machen wir? Zwanghaft legen wir alles darauf an, dass die Welt nach unserer Pfeife tanzt! Dabei ist es statt eines festen Plans fast immer besser, sich Alternativen vorzustellen- und auf mehrere Pferde gleichzeitig zu setzen. Beispielsweise wollen Sie in Deutschland Urlaub machen. Dann kännte Ihnen der Zufall zwei Wochen Regen bescheren. Damit aber werden Sie fertig, indem Sie bewusst nicht ein Hotel in einem abgelegenen Schwarzwaldtal buchen, sondern in der Nähe einer Stadt. Wenn die Sonne scheint, wandern Sie. Wenn es schüttet, sehen Sie sich die Museen an und besuchen alte Freunde. Oft ist es sehr einfach, solche Lösungen zu finden. Mit Strategien wie dieser werden wir nicht nur bessere Entscheidungen treffen und gelassener leben. Wir werden den Zufall auch als Bereicherung genießen können.
Interview: Regina Kramer
Erschienen in Brigitte 16/2004