Über das Glück, Kunst zu erleben

erschienen in Brigitte Kultur 1/03

Manchmal reicht ein Blick, um ums für den Rest unseres Lebens zu verzaubern. Ich erlebte das bei meinem ersten Besuch in der Münchner Neuen Pinakothek. Gerade 16 geworden, schlenderte ich durch die Galerien, ohne besonderes Interesse, ohne große Erwartungen. Plötzlich weckte in einem der vielen Säle ein Farbenschimmer aus der Ecke meine Aufmerksamkeit.

 

Es war, als ginge davon eine magnetische Kraft aus, die erst meine Augen und schließlich den ganzen Körper anzog. Ich trat näher. Was ich sah, war ein Gemälde von eigentümlicher, fast übernatürlicher Klarheit Es heißt ganz einfach "Bahndurchstich" und zeigt einen Hügel irgendwo in der Provence, von der Sonne verbrannt und mit Büschen bestanden. Durch die ockergelbe Erde zieht sich ein dunkler Graben, die Anhöhe hatte offenbar einer neuen Bahnlinie den Weg versperrt. Ein Haus, das vorher auf der Kuppe thronte, scheint jetzt über einem Abgrund zu schweben. Im Hintergrund hat der Maler Paul Cezanne das Massiv des Mont St. Victoire in den Himmel ragen lassen, kantig und bläulich schimmernd wie ein riesiger Edelstein - eine andere, vom Menschen noch nicht berührte Welt. Am merkwürdigsten aber ist das Licht über der Szenerie. Nirgends eine Lichtquelle, nirgends Schatten: Die Dinge leuchten aus sich selbst heraus! Eigentlich haben Büsche, Hügel, Himmel und Berg ganz aufgehört, Dinge zu sein. Sie sind reine Farbe und Form, Teile eines übergeordneten Ganzen geworden.

Ein Gefühl großer Leichtigkeit erfasste mich, als meine Augen durch das Bild schweiften. Nie zuvor war ich einer Landschaft Cezannes begegnet. Ich spürte mein Herz schneller schlagen, und das angenehme Ziehen einer Sehnsucht stellte sich ein. Was ging in mir vor? Konnte das bisschen Ölfarbe auf einer Leinwand wirklich diese Empfindungen ausgelost haben? Woran sonst lag es, dass mir die Welt mit einem Mal so viel weniger chaotisch, so viel freundlicher schien?

Ich begann, mich naher mit dem 1906 gestorbenen Maler zu befassen, der auf seinen Selbstporträts so gar nicht freundlich wirkte. Ich erstand einen billigen Band mit Drucken, und als ich bald darauf als Austauschschüler nach Paris kam, pilgerte ich ins Musee Jeu de Paume.

Ich wurde nicht enttäuscht. Hier fand ich Cezannes aus allen Schaffensperioden, und offenbar war das Bild vom Bahndurchstich nur ein Anfang gewesen. Je mehr der Meister gemalt hatte, umso mehr Eigenleben entwickelten seine Werke. Zunehmend losten sich die Farben auf der Leinwand von den Gegenständen, die sie bedeuteten, und begannen ein Spiel nach ihren eigenen Gesetzen, wie Tone einer Musik. Tatsachlich meinte ich vor manchen Landschaften die großartigen Klänge Bachscher Fugen zu hören, die ich damals gerade entdeckt hatte. Seither suche ich in den Museen nach den Gemälden Cezannes, wo immer ich bin.

Genau genommen ist es ein Wunder, dass Kunst einen solchen Bann auf uns ausüben kann. In unserem Fühlen und Handeln sind wir Menschen Kinder der Natur, doch Freude an Kunst dürfte die Evolution kaum vorgesehen haben. Die Natur hat die angenehmen Gefühle erfunden, um uns zu nützlichem Verhalten zu verfuhren: Damit wir uns ernähren und vermehren, empfinden wir Spaß am Essen und am Sex; well Menschen nur in der Gemeinschaft überleben können, fühlen wir uns im Kreis unserer Freunde geborgen. Doch wofür brauchen wir spatimpressionistische Bilder, Opern und Eisensteins Filme?

Weder verbessert Kunstsinn unsere Aussichten im Lebenskampf, noch vergrößert er unsere Fortpflanzungschancen; aus der Sicht der Evolution ist es reine Verschwendung, das Schone zu sehen. Trotzdem empfinde ich tiefe Befriedigung vor den Bildern Cezannes oder wenn eine Oper Verdis mich anrührt. Manche werden ein Rockkonzert vorziehen, doch darauf kommt es nicht an: Entscheidend ist, dass wir solche Erfahrungen machen und ein Bedürfnis nach ihnen entwickeln. Konnte es sein, dass das Gehirn als Nebenprodukt all seiner erstaunlichen Fähigkeiten ein Verlangen nach Kunst aufkommen lasst?

Vilaynur Ramachandran gilt als einer der führenden Hirnforscher der Welt, das Nachrichtenmagazin "Newsweek" zahlte ihn sogar zu den 100 wichtigsten Menschen im neuen Jahrhundert. Außerdem ist er ein großer Liebhaber von Skulpturen aus seiner indischen Heimat, mit denen er sein Büro an der kalifornischen Universität von San Diego ausstaffiert hat. Aber nicht dorthin hatte mich der Wissenschaftler bestellt, sondern zu einer Statue auf dem Campus. So trafen wir uns unter einem riesigen Vogel aus Plexiglas, der einen Sonnengott darstellt. Auf seinem Kopf lodert ein Strahlenkranz, die grellbunten Schwingen und der ebenso gewaltige Schnabel sind beeindruckend Die schrille Figur stammt von der Bildhauerin Niki de Saint Phalle, einer inzwischen gestorbenen Freundin Ramachandrans.

Einen besseren Hintergrund für seine Erklärungen hatte sich der Forscher nicht aussuchen können. Er glaubt nämlich, dass wir in der Kunst eine Überdosis normaler Wahrnehmung genießen. "Wir haben Bereiche im Großhirn, die speziell auf ein bestimmtes Merkmal reagieren. Manche von ihnen sprechen auf Farben an, andere auf runde oder eckige Formen, dritte auf waagerechte oder senkrechte Linien oder auf Kurven. Vielleicht sind diese Bereiche im Gehirn mit den Zonen gekoppelt, in denen die Gefühle entstehen", vermutet er.

,,Wann immer wir eine Farbe, Form oder auch eine Tonfolge erkennen haben wir eine angenehme Empfindung, denn sich in der Welt zurechtzufinden dient dem überleben." Gibt es also eine Urfreude am Hären und Sehen? ,Ja, man kann es so sagen. Künstler spielen mit diesen Momenten winzigen Glucks und steigern sie, indem sie uns eine Portion hoch konzentrierter Reize verabreichen."

Wenn Ramachandran Recht hat, bereiten Niki de Saint Phalles bunte Frauenkörper uns Freude, well sie das Leben praller zeigen, als es je sein konnte; zieht Cezanne uns in seinen Bann, well wir auf seinen Bildern Farben und Formen intensiver sehen als in der Natur: Gute Kunst spricht uns an, well sie wirklicher als die Wirklichkeit ist.

Doch Gemälde, Symphonien und Filme können uns nicht nur entrücken, indem sie die Mechanismen der Wahrnehmung im Gehirn

kapern - sie haken sich auch in unsere Erinnerung ein. Oft genügt schon ein Fingerzeig, um uns eine Reise durch die Vergangenheit der Gefühle antreten zu lassen. Bei meiner Begeisterung für Cezannes Bahndurchstich mag der darauf gezeigte Mont St. Victoire eine Rolle gespielt haben; ich bin in den Bergen aufgewachsen, und für mich bedeuten sie Freiheit. Andere Auslöser sind nicht so konkret, die Empfindungen, die sie freisetzen, dafür umso intensiver: Ramachandran, dem als Wissenschaftler Religion sonst eher fremd ist, erzählt von einem geradezu mystischen Gefühl der Verbundenheit mit dem Kosmos, wenn er klassische indische Musik hört - ein Europäer mag bei den Passionen Bachs ähnliches fühlen.

Meistens geht es im Großhirn recht aufgeräumt zu. Manche Teile sind für das Sehen andere für das Hören. Wenn wir aber vor einem Kunstwerk plötzlich starke Gefühle erleben, ist der Funke der Erregung von einem dieser Gebiete auf ein anderes übergesprungen: So können die Muster eines Bildes Erinnerungen an Emotionen langst vergangener Jahre wachrufen. Ähnliche Irrläufer im Kopf verschaffen uns wahrscheinlich die Empfindung des Farbenhörens, wie ich sie mitunter vor Cezannes Gemälden erlebe: Wenn wir beim Betrachten eines Bildes plötzlich Musik zu hören meinen, sprechen die akustischen Bereiche im Gehirn auf Nervensignale aus den Augen an, für die sie gar nicht bestimmt waren. Kunst bringt nicht nur die Sinneswahrnehmung, sondern unser ganzes Wesen zum Klingen.

Der Geist und fast jede Faser des Körpers reagieren auf Kunst. Dafür sorgen die Strange des vegetativen Nervensystems, die sich bis in die Finger und Zehenspitzen verästeln. Dieses Nervensystem, auf das wir mit dem Willen kaum Einfluss haben, stellt den Organismus auf das richtige Maß an Erregung ein. Wenn ein Kunstwerk auf uns wirkt, führt dies oft zu einer Beruhigung, die wir als angenehm erleben. Beim Musikhören beispielsweise verlangsamt sich meist der Herzschlag, und der Blutfluss in den Gliedern lässt nach. Bei Stücken mit häufigen Überraschungen und unregelmäßigem Rhythmus - wie beim Jazz - beginnt allerdings das Herz oft heftig zu klopfen. Die amerikanische Psychologin Carol Krumhansl hat versucht, weitere Veränderungen im Körper zu messen. Sie fand heraus, dass ihre Versuchspersonen beim Musikhören etwas schneller, aber auch flacher atmeten. Zudem kühlte die Haut um ein paar Zehntel Grad aus, und well sich mehr Schweiß bildete, sank der elektrische Hautwiderstand. Diese Effekte sind zwar nur schwach ausgeprägt, aber durchaus spürbar.

Dramatischer ist, was sich dabei im Kopf abspielt. Hier springt das Belohnungssystem an. Diese Schaltung im Zwischenhirn wird aktiv, wann immer wir Lust und freudige Erregung empfinden - etwa beim Pralinen essen, beim Sex oder auch nach der Einnahme von Drogen. Dieselben Mechanismen wirken auch beim Kunstgenuss. Diese Entdeckung machten zwei kanadische Neurologen vor gut zwei Jahren: Anne G. Blood und Robert G. Zatorre ließen Musik laufen, die ihre Versuchspersonen so anrührend fanden, dass ihnen ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief- bei Rachmaninows drittem Klavierkonzert zum Beispiel. Das Gefühl der wohligen Gänsehaut, von der die Probanden berichteten, war keineswegs Einbildung, sondern sehr real die Wissenschaftler konnten die Körperreaktionen mit ihren Messgeraten erfassen. Gleichzeitig nahmen sie die Gehirnaktivität auf, indem sie mit einem Computertomografen die Köpfe durchleuchteten. Sie fanden Gehirne in Ekstase: Zentren, die unangenehme Gefühle auslosen, waren wie abgeschaltet, ungewöhnlich aktiv dagegen waren die Bereiche im Kopf, die für Wachheit und Gefühlswahrnehmung sorgen. Und das Belohnungssystem, das Lust und Erregung erzeugt, war in vollem Gange. In solchen Momenten wird im Kopf Dopamin ausgeschüttet. Dopamin ist eines der wichtigsten Hormone im Gehirn und von einer erstaunlichen Vielseitigkeit. Es sorgt nämlich nicht nur für angenehme Erfahrungen, sondern hilft auch beim Lernen und stachelt uns zur Neugierde an. Wer sich gut fühlt, will die Welt erkunden und umgekehrt: So hat uns die Natur eingerichtet. Darum sind wir darauf programmiert, neue Erfahrungen zu sammeln wie die Eichhörnchen ihre Nüsse. Für unsere Neugier werden wir mit Entdeckerfreude belohnt. Auch dieses Glück verschafft uns die Kunst.

Wenn wir ein Bild betrachten oder Musik hören, verwandeln wir das Kunstwerk im Gehirn also in eine ganz persönliche Erfahrung, aber ebenso verwandelt es uns. Jede Entdeckung weckt die Lust auf Mehr. Eine Aufwärtsspirale kommt in Gang: Je mehr Gemälde, Bücher oder Musik wir aufnehmen, desto genauer lernen wir sehen und hären, desto reicher der Hintergrund des Wissens, vor dem wir immer Neues erkennen. Als ich lernte, Cezannes Bilder zu lesen, mochte ich Picasso erst recht. Denn ich sah, wie der eine die Bildsprache des anderen übernommen und weiterentwickelt hatte. Die Entdeckerfreude wird umso großer, je mehr wir schon entdeckt haben - das Leben mit Kunst ist wie eine unendliche Reise.

Kunst wirkt wie ein Rausch, nur ohne Kater. Es gibt also gute Gründe dafür, dass Menschen für eine Ausstellung stundenlang Schlange stehen, dass sie für ein Konzert hunderte Kilometer weit reisen, dass sie als Sammler ihr ganzes Vermögen einsetzen, um langst übervolle Wände ihres Hauses mit noch mehr Bildern zu schmucken. "Kaufen Sie keine Kleider, kaufen Sie Kunst", soll Gertrude Stein ihrem Kollegen Hemingway geraten haben. Zu einem Cezanne hat es bei mir nie gereicht. Schade eigentlich.

 

© Stefan Klein 2003