Hat der Mensch wirklich eine Seele?

Ernst Waelti wollte gerade einschlafen, als er fühlte, wie sein Körper erstarrte. Er versuchte, seine Hände zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. So sehr er sich anstrengte, auch nur einen Finger zu krümmen – kein Muskel gehorchte. Nicht einmal mehr die Augen konnte er öffnen. Furcht überkam ihn. Erlebte er gerade bei vollem Bewusstsein, wie sein Organismus die Arbeit aufgab? Was erwartete ihn?

Womöglich würde bald die Leichenkälte in Fingerspitzen und Zehen eindringen, allmählich die Glieder hochkriechen, den ganzen Körper erfassen.

Während er noch solchen Gedanken nachhing, beobachtete Waelti, wie sich an seinem Körper tatsächlich etwas veränderte: Seine Hände verdoppelten sich. Da waren seine alten, nach wie vor steifen Hände. In ihnen schien aber nun ein zweites Paar Hände zu stecken, die begannen, sich zu bewegen. Mehr noch, er konnte die neuen Hände aus den alten herausziehen! Wie wenn sie sich aus Handschuhen befreiten, lösten sich die neuen Hände an den Fingerspitzen ab und schlüpften aus der reglosen Hülle. Und als zögen sie immer größere Teile seines Leibs nach, fühlte Waelti, wie sich nun auch ein zweites Paar Arme von den erstarrten Gliedmaßen abtrennte. Dann folgte der Rumpf, schließlich die Beine. Sein ganzer Körper hatte sich verdoppelt. Und plötzlich glitt der neue Leib durch eine Öffnung in Waeltis altem Schädel ins Freie.

Er war jetzt schwerelos. Beglückt stieß er sich ab und flog zur Zimmerdecke hinauf. Eine Zeitlang schwebte er über dem Bett. Unter ihm lag der andere Körper, noch immer gelähmt. Da packte ihn die Angst, er könnte seinen alten Leib verlieren. Waelti stürzte in seinen früheren Körper zurück.

Am nächsten Morgen erwachte er in euphorischer Stimmung. Später berichtete Waelti, in jener Sommernacht des Jahres 1979 habe sich ihm ein Spalt zur Unermesslichkeit aufgetan: „Ein Fahrzeug stand für mich bereit, um in den unbekannten See der Seele hinauszufahren.“ Bald verließ er seinem physischen Leib erneut, und mit jedem Austritt wurde er mutiger. Waelti schwebte über die Hausdächer und durch Wände. Er lernte mit dem Doppelkörper zu hören, zu tasten, sah Lichterscheinungen.

Zweifler mögen Waeltis Erlebnisse für Fantasterei halten, doch ist der Schweizer alles andere als ein esoterischer Spinner. Seine Erfahrungen beschrieb er mit der Akribie des Naturwissenschaftlers; Waelti ist Biochemiker an der Basler Universität. Und mit demselben Forschergeist, mit der er im Labor Viren untersuchte, untersuchte er nun auch seine eigene Natur und protokollierte, was er mit seinem Doppelgänger erlebte.

Die einzigartige Sammlung seiner Berichte ist schon deswegen viel mehr als Kuriosum, weil immerhin jeder zehnte Mensch schon einmal außerkörperliche Erfahrungen gemacht haben will. Die meisten schildern einen Austritt, als sie wie Waelti still im Bett lagen. Das ist eine uralte Vorstellung, die ähnlich schon im altägyptischen Totenbuch auftaucht: Ba, ein geflügeltes Seelenwesen, schwebt über einem reglos daliegenden Körper. Auffallend oft erzählen auch Frauen und Männer, die dem Tod nahe waren und dann doch unter die Lebenden zurückgekehrt sind, sie hätten sich selbst eine Zeitlang von außen betrachtet. Wer eine solche Erfahrung gemacht hat, kann kaum noch annehmen, dass alles, was ihn ausmacht, Materie sein soll. Hat er nicht selber erlebt, wie der Geist alle Fesseln sprengen kann, die die Naturgesetze dem Körper anlegen?

Nicht zuletzt solche Erfahrungen ließen Menschen zu allen Zeiten fest daran glauben, dass wir viel mehr – oder etwas ganz anderes – sind als nur ein sterblicher Leib. Aber was? Mehr als die Hälfte der Deutschen gibt sich davon überzeugt, dass ihnen eine unsterbliche Seele wohnt: ein nichtmaterielles Etwas, das den eigentlichen Kern der Person ausmacht. Es könnte der Quell unserer Wahrnehmungen, Erinnerungen und Sehnsüchte sein – und den könnte Tod überwinden. Wenn Herz und Hirn einmal nicht mehr funktionieren, dann könnte die Seele ihr Gefängnis im Körper verlassen und ein Eigenleben beginnen – wie es Waelti mit seinem Doppelgänger widerfuhr.

Zwar haben die rasanten Fortschritte der Hirnforschung Zweifel an dieser Hoffnung gesät. Die Neurobiologen halten die Seele für eine Fata Morgana. Sie betrachten unser Gehirn als eine unendlich komplizierte Maschine. Demnach ist all unser Fühlen, Erleben und Denken das Ergebnis physikalischer Vorgänge im Kopf. In nicht allzuferner Zukunft werden sich diese Mechanismen restlos entschlüsseln lassen, argumentieren viele Wissenschaftler: Dann wäre die Seele endgültig als Illusion entlarvt.

Aber es widerstrebt uns, an die nüchterne Botschaft der Forscher zu glauben. Und was so viele Menschen an der Idee einer Seele festhalten lässt, ist beileibe nicht nur an der Angst vor dem Tod – oder gar das Rätsel außerkörperliche Erfahrungen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt tiefer: Wir fühlen uns überhaupt nicht wie die raffinierten Automaten, als die uns die Forscher beschreiben. Schon die alltäglichsten Erlebnisse genügen, um uns stutzen zu lassen. Ich sehe eine rote Ampel. Die Hirnforschung erklärt diese Wahrnehmung durch die Bewegung von Molekülen im Kopf, die vom Lichteinfall einer bestimmten Wellenlänge ausgelöst wird. Doch ist meine Farbempfindung nicht etwas ganz anderes?

Und wer kennt nicht diesen schwer zu beschreibenden Zustand, wenn wir uns in Musik versenken, die Sterne am Nachthimmel betrachten oder uns einem Menschen so nahe fühlen, dass „mein“ und „dein“ unwichtig werden? Raum und Zeit scheinen dann nicht mehr zählen, der eigene Körper ist wie ausgelöscht. Und dennoch spüren wir uns gerade in solchen Momenten intensiver als sonst. Die Wahrnehmung wird überscharf. Das Gefühl einer unterschütterlichen Sicherheit über die eigene Existenz stellt sich ein: Ich bin da, so viel steht fest. Mehr als befremdlich erscheint es, dass dieses tiefe geistige Erleben von einem Körper ausgehen soll, der mir gegenwärtig so unwichtig vorkommt.

Darum ist die Idee einer Seele so verführerisch. Selbst wenn wir es wollten, könnten wir uns kaum gegen sie wehren. Dabei ist noch nicht einmal klar, was genau wir mit diesem Begriff eigentlich meinen. Er hat fast so viele Bedeutungen, wie sich Philosophen auf der Suche nach dem innersten Wesen des Menschen gemacht haben. Sie alle schwingen mit, wenn wir von der „Seele“ reden.

Bereits die Denker im antiken Griechenland haben sich in Widersprüche verstrickt. Sie gebrauchten das Wort „Psyche“, das auf altgriechisch schlicht „Atem“ bedeutet. Ihnen zufolge war die Seele der Lebensatem nicht nur des Menschen, sondern aller Geschöpfe. Thales, einer der ersten Naturphilosophen, hielt sogar Magneten und Bernstein für beseelt – schließlich bewegten sie sich durch die elektrischen Kräfte wie Lebewesen von selbst. Plato dagegen propagierte die Seele als Garant der Unsterblichkeit. Er berichtete, wie sein Lehrer Sokrates froh den Schierlingsbecher austrank, weil er überzeugt war, dass das Gift dem Kern seiner Person nichts anhaben könne. Denn die Seele sei vorübergehend und ungern im Leib eingesperrt.

Nicht einmal die großen Religionen können sich einigen, was die Seele ist – und ob es sie überhaupt gibt. Hindus etwa, die an den Ufern des Ganges ihre Toten verbrennen, sehen die Sache ähnlich wie der Philosoph Plato: Sie wollen die Seele vom Körper befreien, um die Wiedergeburt zu erleichtern. Buddhisten glauben ebenfalls an die Reinkarnation, bestreiten aber die Existenz einer Seele. In einen neuen Leib schlüpft nach ihrer Meinung nur eine veränderliche Ansammlung geistiger Eigenschaften, die nichts auf Dauer zusammenhält.

Auch dem Judentum war die Idee eines ewigen Lebens während der längsten Zeit seiner Geschichte fremd. Erst als die Rabbiner in der Ära um Christi Geburt mit der griechischen Philosophie in Kontakt kamen, sprachen manche unter ihnen von Unsterblichkeit. In diesem geistigen Umfeld entstand schließlich das Christentum. Es vertritt zwar die Existenz einer unsterblichen Seele, zieht deren Bedeutung aber indirekt in Zweifel: Die Seele gibt es zwar, doch kann sie sich nicht vom Körper trennen. Der Mensch seine eine Einheit aus beiden; nach Jesu Auferstehung war das Grab leer. So hofften die frühen Christen, dass am Tag des Jüngsten Gerichts auch ihre Leiber auferweckt werden. Die heutige Theologie hingegen sieht die Auferweckung vom Tod eher als einen Prozess. Dieser beginne schon im irdischen Leben und vollende sich, wenn wir sterben. Dann nämlich würde der Mensch mit Leib und Seele die Einheit mit Christus erlangen – das ewige Leben.

Die Erklärungen der Philosophen und Priester haben kritische Geister ungeduldig gestimmt. Zu ihnen zählte der Stauferkaiser Friedrich II., der unter den Forschern des Mittelalters einer der mutigsten war. Um die Frage nach der Seele endlich zu klären, ließ er angeblich einen Gefangenen in ein Fass einsperren und verhungern. Mit dem grausamen Experiment wollte er feststellen, ob sich die Seele nach dem Tod des armen Mannes durch ein Loch im Fass davonmachte. Fast sieben Jahrhunderte später verfolgte der amerikanische Arzt Duncan MacDougall ein ähnliches Ziel: Er hatte sich Gemüsehändler-Balkenwaage besorgt und wog damit einen sterbenden Tuberkolosekranken. Als der Tod eintrat, sei der Körper um eine dreiviertel Unze leichter geworden, schrieb MacDougall in der Fachzeitschrift American Medicine. Genau so viel wiege also die Seele. Zur Gegenprobe mussten sterbende Hunde ihre letzten Minuten auf der Waage verbringen. Bei deren Ableben habe sich der Balken nicht im Geringsten bewegt, erklärte der triumphierende Forscher im Jahr 1907. Damit sei der Beweis erbracht, dass Menschen eine Seele haben und Hunde keine.

In der letzten Zeit hat die Forschung allerdings Fortschritte gemacht. Wenigstens ein Argument der Seelengläubigen konnte sie wohl für immer entkräften: Es gibt keine psychischen Vorgänge, ohne dass sich zugleich im Gehirn etwas tut. Mittlerweile können Wissenschaftler Menschen buchstäblich beim Denken und Fühlen zusehen, indem sie mit per Computertomographie die Tätigkeit der verschiedenen Regionen im Gehirn messen. Und ganz gleich, was wir wahrnehmen, überlegen oder empfinden – stets lässt sich die seelische Aktivität an der Arbeit der grauen Zellen ablesen.

Umgekehrt kann man inneres Erleben erzeugen, wenn man nur die richtigen Hirnzentren anregt. Mitunter implantieren Ärzte Epileptikern Elektroden ins Gehirn, um ihr Leiden zu mildern. Als nun der kalifornische Neurochirurg Itzhak Fried vor ein paar Jahren einen schwachen Strom in den Kopf einer solchen Patientin leitete, begann die junge Frau plötzlich zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören. Gefragt, was denn so lustig sei, antwortete sie: „Ihr Ärzte! Ihr seid einfach so komische Typen, wie ihr da herumsteht.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass allein die Elektrode im Gehirn ihre Heiterkeit ausgelöst hatte.

Sogar außerkörperliche Erfahrungen, wie sie Ernst Waelti gemacht hat, können auf diese Weise entstehen. Dem Neurologen Olaf Blanke in Lausanne gelang dies ebenfalls bei einer Epileptikerin. Als er eine Stelle auf dem rechten Scheitellappen der Patientin reizte, berichtete sie, sie sei als Double ihrer selbst zur Decke geschwebt. Von dort habe sie auf ihren anderen Leib hinuntergeschaut. Offenbar braucht man also keine Seele, um außerkörperliche Erfahrungen zu erklären. Vielmehr erzeugen seltene Störungen der Hirnfunktionen das Gefühl, der eigene Leib verdoppele sich. Und weil wir nicht wahrnehmen können, was sich in unserem Gehirn abspielt, geht es Menschen bei einer außerkörperlichen Erfahrung wie der durch elektrische Stimulation zum Lachen gebrachten Patientin: Sie kommen nicht auf die Idee, die Ursache in ihren eigenen Köpfen zu vermuten.

Noch eine Illusion nimmt uns die Hirnforschung: Nichts spricht dafür, dass so etwas existieren könnte wie ein innerster Kern der Person. Wenn es ein solches Zentrum gäbe, müsste das Gehirn so ähnlich organisiert sein wie die Truppen einer Armee. Irgendwo müsste es einen Oberbefehlshaber geben, bei dem alle Drähte zusammenlaufen. Doch das Gehirn arbeitet ganz anders, wie Neurobiologen heute wissen. Seine Teile wirken keineswegs wie Soldaten zusammen, sondern eher wie die Spieler einer gut trainierten Fußballmannschaft: Jeder übernimmt eine Rolle, jeder stimmt seine Aktionen selbst mit den anderen ab, darum braucht es kein zentrales Kommando. Und wie ein gutes Team, so organisiert sich auch das Gehirn ständig neu. Niemand würde behaupten, der FC Bayern sei Mark van Bommel, Bastian Schweinsteiger oder Miroslav Klose. Genauso unsinnig erscheint es, irgendeinen Bestandteil einer Person als den anzusehen, der sie ausmacht. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Keine Psyche ohne Körper, kein innerster Kern unseres Wesens: Die Wissenschaft hat die gewohnte Vorstellung von der Seele so gründlich unterminiert, dass ihr der Begriff selbst überflüssig erscheint. Denn alles, was die Forschung beobachten kann, lässt sich erklären, ohne von einer Seele zu reden. Und so wird auch die Unsterblichkeit eine reine Frage des Glaubens. Natürlich kann niemand wissen, was nach dem Tod mit seinem Innenleben geschieht. Andererseits fehlt selbst der leiseste überprüfbare Hinweis darauf, dass die Persönlichkeit den Leib überlebt.

Aber ist damit wirklich das letzte Wort über die Seele gesprochen? So großartige Erfolge die Wissenschaft verzeichnet, hat sie doch einen blinden Fleck. Und gerade ihm verdankt sie ihre Triumphe: Wissenschaftler befassen sich nur mit Dingen, über die man sich einigen kann. Doch es gibt Fragen, bei denen grundsätzlich keine Verständigung möglich ist, und die sich trotzdem jeder schon gestellt hat: Sehen zum Beispiel andere Menschen das Blau des Himmels genau so wie ich? Um das herauszufinden, müsste ich in ihre Haut schlüpfen können.

Zu solchen Fragen hat die Wissenschaft nichts zu sagen, weil sie stets die Sicht von außen einnimmt. Forschung will objektiv sein; sie sammelt Daten und leitet daraus Theorien ab. Das kann sie nur, indem sie sich auf den Standpunkt des unbeteiligten Beobachters zurückzieht. Unser inneres, ganz privates Erleben aber bleibt ihr verschlossen. Und zwischen beidem klafft eine riesige Lücke. Wie groß sie ist, weiß jeder, der sich an seine erste Liebe erinnert oder die Geburt eines Kindes miterlebt hat: Solche Erfahrungen können wir niemandem erklären, der sie nicht selbst gemacht hat. Es fehlen die Worte, um treffend das Leuchten der ganzen Welt zu beschreiben, das Liebende erleben. Alles, was wir sagen können, bringt bestenfalls die eigene Erinnerung des Gesprächspartners zum Klingen. Hat der andere aber nicht schon Ähnliches in seinem Leben erfahren, bleibt er ratlos wie ein Blinder, dem man von einem Sonnenuntergang vorschwärmt.

Auch wenn die Wissenschaft heute noch weit davon entfernt ist, unser Gehirn bis in seine letzten Winkel zu verstehen, wird ihr dies vielleicht einmal gelingen. Doch wird eine vollständige wissenschaftliche Erklärung jemals erfassen, was wir empfinden? Selbst wenn sich eine künftige Hirnforscherin alle Daten über das Gehirn eines Verliebten verschafft, könnte sie anhand ihrer Messungen nicht erfahren, wie es ist, sich zu verlieben. Herausfinden würde sie es nur, wenn sie selbst ihr Herz an jemanden verliert.

Denn Wissen kann keine Erfahrung ersetzen. Bereits vor unseren scheinbar einfachsten Erlebnissen muss der unbeteiligte Außenseiter kapitulieren. David Hume, ein schottischer Aufklärungsphilosoph, brachte die Schwierigkeit schon im frühen 18. Jahrhundert auf den Punkt:„Um sich eine Vorstellung von der Ananas zu machen, muss man sie schmecken.“ Dass ich die Süße und die feine Säure der Frucht wahrnehme, verdanke ich natürlich den Geschmacks- und Geruchsrezeptoren auf der Zunge und in der Nase; sie sind mit Nervenbahnen an den Geschmackskern im Hinterhirn gekoppelt und lösen über diese Zwischenstation die Tätigkeit Zehntausender grauer Zellen im Zwischenhirn und im Stirnlappen des Großhirns aus. Wie aber entsteht aus diesem rein physikalischen Vorgang das Erlebnis eines Geschmacks? Wie rufen elektrische Ströme und chemische Botenstoffe innere Bilder und Gefühle hervor? Das ist das so genannte „harte Problem“ der Bewusstseinsforschung. Mit ihm ringen die Neurowissenschaftler und Philosophen seit Jahrzehnten. Der Lösung kamen sie keinen Fingerbreit näher.

Im Gegenteil: Je mehr Daten über die Arbeit des Gehirns sie sammeln, umso drängender stellt sich die Frage, woher all unser inneres Erleben eigentlich kommt – und warum wir es haben. Und das Rätsel hat eine Fortsetzung. Denn selbst wenn ich verstehen würde, was das Feuern von Neuronen in den Geschmack der Ananas oder die Freuden der Liebe verwandelt, bliebe immer noch offen, weshalb diese Empfindungen meine eigenen sind. Denn wer ein Innenleben spürt, muss noch lange kein Ich haben. Säuglinge etwa können ihre Gefühlsregungen höchst lautstark ausdrücken, aber ihnen fehlt noch jede Ahnung davon, wer sie sind. Woher also kommt mein ganz persönlicher Blick auf die Welt?

Schwer fällt es, sich ein Leben vorzustellen, in dem wir bewusster Erfahrung haben, aber ohne ein Ich, das sie macht. Und doch geraten Menschen überraschend häufig in einen solchen Zustand. Nach langer Übung der Meditation oder auch auf besonders dramatische Weise bei epileptischen Anfällen kann sich die Ichperspektive völlig auflösen. Die Patienten nehmen dann weiterhin wahr, was um sie herum und in ihnen vorgeht, verlieren aber jedes Gefühl für sich sich selbst – als hätten sie einen Geist ohne Besitzer. Ähnliche Veränderungen führen zur außerkörperlichen Erfahrung. Normalerweise verbinden wir das Ichbewusstsein mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers; hier aber spaltet sich das eine vom anderen ab. Gerade darum seien außergewöhnliche Bewusstseinszustände so wertvoll, argumentiert der Philosoph Thomas Metzinger in seinem Buch „Der Ego-Tunnel“: Sie erlauben uns einen Blick auf die Mechanismen, mit denen im Gehirn das Gefühl für die eigene Identität entsteht.

Allerdings stößt auch solche Forschung an ihre Grenzen. Denn was für das Himmelblau und den Ananasgeschmack gilt, trifft auf das Ichempfinden erst recht zu: Für die Wissenschaft ist alles, was mich ausmacht, eine Menge von Vorgängen in meinem Kopf, in meinem Körper und in meiner Umgebung. Für mich selbst aber ist es unendlich viel mehr: die persönliche Erfahrung, wie es sich anfühlt, Stefan Klein zu sein. Kein anderer wird je herausfinden können, was das bedeutet. Und weil ich mich uns ständig verändere, war überdies das Erlebnis unserer selbst gestern oder vor einem Jahr anders als heute beschaffen.

Vielleicht ist das Wort „Seele“ einfach eine kurze Umschreibung für dieses „mehr“: unsere Fähigkeit zu einem inneren Erleben, das sich stets in der Gegenwart abspielt. Wohl gibt es keine Erfahrung, keine Persönlichkeit ohne Gehirn. Aber gerade deswegen muss zwischen Leib und Seele kein Widerspruch herrschen – beide sind vielmehr zwei Seiten derselben Medaille. Ob mir nämlich ein Geschehen in meinem Kopf als körperlich oder seelisch erscheint, hängt nur davon ab, welchen Standpunkt ich wähle. Ein Gefühl, ein Bild oder auch eine Idee kann ich als Hervorbringung des Gehirns begreifen, solange ich mit den Augen eines unbeteiligten Dritten auf mich selbst schaue. Erleben ich dagegen dasselbe Geschehen aus meiner Innenperspektive heraus, so empfinde ich es als seelisch. Beides ist wahr.

Lange vermuteten die Menschen, die Seele sei ein wie auch immer geartetes Ding, das in ihnen wohnt und sich niemals verändert. Heute wissen wir, dass die Wirklichkeit ungleich faszinierender ist – was uns als seelisch begegnet, ist eher ein Vorgang. Die Seele ist nicht da, sie entsteht fortwährend. Sie mag uns zwar keine Untersterblichkeit garantieren; doch dafür begegnen wir in ihr unserem eigenen Lebendigsein. In dieser Erkenntnis liegt eine enorme Befreiung: Wir müssen nicht auf den Tod warten, um das zu erfahren, was das Christentum mit der Geschichte der Auferstehung umschreibt. Das Wunder, dass sich Materie in eine geistige Erfahrung verwandelt, vollzieht sich vielmehr in jedem Moment. Vor unserem inneren Auge können wir es ständig erleben. Jetzt. Hier.

Erschienen in: Stern 17.02.2011