Die Nachtseite der Lust

Warum Sucht ein Preis für unsere Intelligenz ist

Erschienen in: Stern 3/2008

Mein erstes Mal sollte ich  mit 13 Jahren auf einem Schulausflug ins Münchner Umland erleben. Der Lehrer hatte uns eine Stunde frei gegeben, wir Jungen machten wir uns auf den Weg in ein Wirtshaus, wo einer von uns lässig eine Runde „Helles“ bestellte. Das Bier schmeckte widerlich bitter. Aber natürlich hatte ich keine Wahl, ich musste es austrinken.

 

Meine erste Zigarette blieb mir nicht im Gedächtnis; den ersten Joint boten mir zwei Mitreisende kurz nach dem Abitur im Zug nach Sizilien an: „Erstklassiges Gras aus dem eigenen Garten.“ Voller Vorfreude auf ozeanische Gefühle saugte ich den Rauch ein – und spürte erst einmal gar nichts. Als der Zug in den Bauch der Fähre einfuhr, erklärte der Graszüchter, ich müsse in der Schiffscafeteria Arancini kosten, sizilianische Reisknödel von der Gestalt einer Orange. Ich versuchte, ihm zu folgen, aber das Schiff schwankte, als überquerte es statt der Straße von Messina die Beringsee. Alles Licht erschien unglaublich hell, und als ich endlich an Deck war, stand die Sonne so riesig und prallgefüllt wie ein Arancino am Himmel. Mir war schlecht, und das schlimmste: Ich schämte mich dafür. Am liebsten wäre ich einfach verschwunden, aber wohin? Irgendwie komplimentieren mich meine Reisegenossen an der richtigen Station aus dem Zug; ich rollte an einem winzigen Strand meinen Schlafsack aus und wachte erst wieder auf, als lange nach Mitternacht ein streunender Hund an mir leckte.

„Ich rauche gern,“ ließ eine besonders verlogene Zigarettenreklame Frauen und Männer behaupten. Tatsächlich schmecken die ersten Zigaretten, die ersten Joints, die ersten Gläser Bier so scheußlich, dass die Vorstellung, Menschen begännen aus Lebensfreude zu rauchen oder zu trinken, lächerlich ist. Suchtforscher wissen, wie schwer es fällt, Versuchstieren Lust auf Rauschmittel zu machen. Dass Menschen dem Leben mit einer Zigarette, einem Gläschen oder allerlei härteren Stoffen ein wenig mehr Farbe geben wollen, ist nichts anderes als der Erfolg einer Dressur. Fast immer erfolgt sie während der Jugend. Der Wunsch, endlich als erwachsen zu gelten, und vor allem die Angst, sich zu blamieren, besiegen den angeborenen Widerwillen gegen die Droge. So greifen Heranwachsende wieder und wieder zu Tabak und Alkohol – bis sich ihr Gehirn an die Drogen gewöhnt.

Erst nachdem wir es uns selbst beigebracht haben, Gefallen an ihnen zu finden, sind Suchtmittel eine Verlockung. Trotz des fiesen Aromas habe ich wieder getrunken, auch Cannabis geraucht; allmählich lernte ich die Entspannung und die zugleich schärfere Sinneswahrnehmung nach einem Joint kennen. Und heute muss ich viel Willenskraft aufwenden, um nach einem anstrengenden Tag nicht in den Weinkeller hinunterzusteigen: Ist das bereits Sucht?

Wir sträuben uns dagegen, derart alltägliche Gewohnheiten Drogenkonsum zu nennen. Was haben schon das Bier am Feierabend oder der Genuss einer Flasche Bordeaux mit dem Heroinschuss eines Junkies auf der Bahnhofstoilette gemein? Und selbst, wenn man einmal über den Durst trinkt, fühlt sich der Schwips anders an beispielsweise die Allmachtsgefühle nach dem Schnupfen einer Linie Kokain oder als ein Ecstasy-Rausch, wenn alle Menschen Brüder werden. Nicht nur die chemischen Wirkstoffe sind verschieden, wir vollführen auch unterschiedliche Rituale mit ihnen; schon deswegen löst jedes Mittel etwas andere Empfindungen aus. Das Nikotin aus der schnellen Zigarette an der Bushaltestelle wirkt belebend, die nach dem Essen geschmauchte Zigarre hingegen entspannt.

Trotzdem sind all diese Unterschiede Äußerlichkeiten. Denn ihre Anziehungskraft verdanken alle Suchtmittel demselben Prinzip: Sie kapern die Mechanismen, denen wir die guten Gefühle verdanken, und greifen damit in lebenswichtige Hirnschaltungen ein. Ohne Glücksmomente könnten Mensch und Tier nicht existieren, weil ihnen der wichtigste Antrieb fehlen würde. Mit guten Gefühlen verführt die Natur ihre Geschöpfe zu Verhalten, das dem Organismus und seiner Fortpflanzung nützt. Die Lust am Essen dient der Ernährung, der Spaß am Sex der Vermehrung, und weil kein Mensch allein überleben kann, empfinden wir angenehme Gefühle im Kreis unserer Freunde.

Glück erleben wir auf zweierlei Art: Zum einen als Genuss, zum anderen als Lust. Genuss ist die Empfindung einer eher satten Euphorie; Lust ist die Vorfreude, die Menschen dazu bringt, sich hoffnungsvoll in Aktivitäten zu stürzen. Genuss und Lust entstehen auf unterschiedliche Weise, doch beide gehen von einer Schaltung aus, die Wissenschaftler meist das Belohnungssystem nennen. Es handelt sich um ein Geflecht miteinander verknüpften Zentren ziemlich genau in der Mitte des Gehirns.

Alle Drogen manipulieren die Mechanismen für Genuss und Lust: Zum einen lässt die Fähigkeit zu genießen nach, weil sich das Gehirn an das Suchtmittel gewöhnt. Um wieder in gute Stimmung zu kommen, muss die Dosis steigen. Zum anderen steigt fatalerweise die Lust auf die Droge. Denn so, wie alltägliche Handgriffe automatisch werden, wenn man sie nur oft genug wiederholt, verstärken suchterzeugende Substanzen bei jedem Gebrauch das Verlangen nach ihnen.

Der erste Akt einer beginnenden Abhängigkeit spielt sich in den Schaltkreisen für Genuss ab. Er beruht darauf, dass im Kopf Opioide hergestellt werden, die den Wirkstoffen von Heroin und Opium gleichen. Diese Substanzen entstehen im Zwischenhirn und regen das Belohnungssystem an. Dann empfinden wir Wohlbehagen. So gibt das Gehirn ein Signal dafür, dass die Reize der Außenwelt für den Organismus erwünscht sind – sei es ein guten Essen, die Gegenwart uns nahe stehender Menschen oder auch Sex.

Glücksgefühle sind berauschend, und Rauschmittel wirken beglückend, da in beiden Fällen im Hirn Opioide frei werden. Heroin löst starke Empfindungen aus, weil das Gehirn den Stoff aus der Spritze mit den körpereigenen Opioiden verwechselt; andere Suchtmittel erzielen ihren Effekt über den Umweg, dass sie das Gehirn anregen, Opioide und weitere Botenstoffe auszuschütten, auch wenn in der Umgebung gar keine erfreulichen Dinge geschehen. Drogen täuschen also das System für den Genuss. Sie erzeugen, wie es der Dichter Charles Baudelaire ausgedrückt hat, ein künstliches Paradies.

Doch beileibe nicht jeder Weintrinker wird Alkoholiker. Dem Nutzen der Drogen – ein Zipfel vom Paradies - stehen nämlich Kosten entgegnen: der drohende Kater, die Angst vor Kontrollverlust und Sucht. Im Gegensatz zu Tieren können wir auf eine Annehmlichkeit jetzt um der Zukunft willen verzichten. Darum können die meisten Menschen ihren Drogenkonsum kontrollieren und jahrelang Abend für Abend nach zwei Gläschen die Flasche verkorken – jedenfalls solange, wie ihr Leben in ruhigen Bahnen dahinfließt.

Wenn aber eine Beziehung zerbricht, ein Angehöriger erkrankt oder der Job unangenehm wird, kann sich die delikate Balance von Kosten und Nutzen verschieben. Schließlich hat jede Droge etwas zu bieten: Alkohol nimmt dem Schüchternen seine Hemmungen, dem Furchtsamen die Angst. Dem Unglücklichen hebt er die Stimmung und betäubt seinen Schmerz. So gießt man sich ein paar Gläser extra ein, einfach, damit der Gefühlshaushalt wieder ins Gleichgewicht kommt, und merkt gar nicht, in welchem Tempo man trinkt. Schon kleine Belastungen lassen die künstlichen Paradiese attraktiver erscheinen als sonst. Wie rasch sich in einem Haushalt die Bierkästen leeren und die Weinflaschen im Altglaskarton sammeln, verrät eine Menge darüber, wie es um Arbeit und Liebe der Bewohner bestellt ist – manchmal sogar mehr, als diese selbst wissen. Verschärft sich die Stresssituation, und genehmigt er sich als Gegenmittel weitere Extrarationen der Droge, nähert sich der Betroffene immer mehr der Grenze zwischen Gewohnheit und Sucht.

Ob und wie schnell jemand an den Abgrund gerät, hängt weniger von der Stresssituation selbst ab – viel entscheidender ist, wie gut man sie erträgt. Teils aufgrund ihrer Gene, teils, weil sie in Kindheit und Jugend schwere Zeiten durchgemacht haben, reagieren manche Menschen auf Stress empfindlicher als andere; sie sind auch eher gefährdet. Von Nachteil ist auch, trinkfest zu sein oder unverwüstliche Atemwege zu haben, weil Rossnaturen nicht von ihrem Körper gebremst werden. (Dass ich weder von Zigaretten und Cannabis abhängig wurde, obwohl ich jahrelang rauchte, verdanke ich auch meinen Lungen. Das Stechen nach einem verrauchten Abend war so unangenehm, dass ich ein paar Tage lang kein Streichholz mehr anfassen wollte.) Und schließlich hat das Umfeld einen großen Einfluss darauf, ob jemand abhängig wird. Spielt sich schon die Initiation zum Drogengebrauch im Freundeskreis ab, so hebelt auch später eine fröhliche Runde oft alle Hemmungen aus.

Im ersten Schritt zur Abhängigkeit schluckt, raucht oder schnupft das Opfer mehr, als sein unvorbereiteter Hirnstoffwechsel verkraftet. Das Gehirn reagiert darauf, indem es abstumpft. Das Suchtmittel wirkt jetzt nur noch in immer höheren Dosen, und was schlimmer ist: Die Schaltungen für die guten Gefühle werden insgesamt unempfindlicher gegen die schönen Dinge im Leben. Ein Lächeln auf einem Kindergesicht, ein gutes Essen, freundliche Worte erreichen Menschen auf dem Weg in Sucht immer weniger. Ihr Leben wird grau; nur noch die Droge kann die Trostlosigkeit für ein paar Stunden verscheuchen.

Ein einfacher Test verrät deshalb, ob man selbst noch aus Gewohnheit zu einem Suchtmittel greift oder schon abhängig ist: Man muss nur die Lieblingsdroge für eine Woche aus seinem Leben verbannen. Wenn sich dadurch nichts ändert, besteht kein Anlass zur Sorge. Sinkt ohne den täglichen Wein, ohne Zigaretten, ohne Tabletten die Stimmung, stellen sich zudem Unruhe oder gar Kopfschmerzen, Zittern und leichte Übelkeit ein, ist es höchste Zeit, sein Leben umzustellen.

Mit diesen so genannten körperlichen Entzugssymptomen fertig zu werden, ist relativ einfach – sie gehen von alleine vorbei. Medikamente könnten die Übergangszeit erträglicher machen, bis sich der Hirnstoffwechsel meist schon nach ein paar Tagen wieder an ein Leben ohne die Droge angepasst hat. Auch die Farben beginnen wieder zu leuchten, die alte Genussfähigkeit kehrt zurück.

Leider aber ist die Sucht damit nicht besiegt. Außenstehende meinen zwar oft, allein die Angst vor dem Entzug fessle den Abhängigen an Flasche oder Spritze. Dann allerdings würden Menschen, die einmal mit dem Konsum aufgehört haben, nicht immer wieder rückfällig werden. Der Mechanismus für den Genuss war ja nur vorübergehend gestört - die Droge muss anderswo tiefere Spuren hinterlassen haben.

Während sich das Gehirn im ersten Akt der Abhängigkeit noch auf die Wirkstoffe der Droge einstellt, bahnt sich schon der zweite Akt an. In seinem Verlauf verliert der Wunsch nach Genuss an Bedeutung. An seine Stelle tritt ein wildes, unkontrolliertes Verlangen.

Verantwortlich dafür ist der zweite Mechanismus des Belohnungssystems, der uns Lust und Antrieb zum Handeln vermittelt. Er löst normalerweise eine Art Frühalarm für kommendes Glück aus. Dieser beschert Verliebten beim Warten auf IHN oder SIE die Schmetterlinge im Bauch; er führt aber auch dazu, dass man ein Restaurant, indem man einmal gut gegessen hat, immer wieder aufsucht. Als Signal dafür, dass uns eine positive Erfahrung bevorsteht, wirkt im Belohnungssystem der Botenstoff Dopamin. Je mehr Dopamin im Hirn zirkuliert, desto erstrebenswerter erscheint ein Ziel. Diese Schaltung wählt also aus, welche Aktivitäten lohnend erscheinen.

Zugleich erleichtert Dopamin dem Gedächtnis das Lernen. Ein geliebtes Gesicht oder den Namen des vortrefflichen Restaurants prägt man sich leicht ein: Das Gehirn programmiert sich darauf, die Glück versprechenden Umstände in Zukunft wieder herzustellen.

Alle Drogen tricksen, wie gesagt, das Belohnungssystem aus. Und zwar nicht nur, indem sie dem Gehirn Genüsse vorgaukeln, sondern ihre Wirkstoffe lassen überdies den Dopaminspiegel ansteigen. Erst das macht sie so gefährlich. Was beispielsweise ein Signal dafür sein sollte, bald den Liebsten oder die Liebste zu treffen, entsteht beim Konsum einer Zigarette auf rein chemischem Weg – ein leeres Versprechen auf Glück. Das Gehirn wird trotzdem umprogrammiert: Allein durch die Wirkung des Dopamins verbucht es das Rascheln des Zigarettenpapiers, das Zischen des Streichholzes und das Kitzeln des ersten Rauchs in der Nase als Erfahrungen, die es schleunigst zu wiederholen gilt.

Sucht ist Lernen auf Abwegen. Und ebenso, wie man seine Muttersprache niemals vergisst, bleibt Menschen auch die Programmierung auf eine Droge für immer erhalten. Wenn die Hirnfunktionen des Alltags Amok laufen, wird die Abhängigkeit unwiderruflich: Dies ist die verstörendste Einsicht, die Suchtforscher in den vergangenen Jahren gewannen. Sie erklärt nicht nur, warum jemand, der einmal einer Droge verfallen war, so schwer seine Freiheit wiedergewinnt – sondern auch, dass Menschen noch nicht einmal eine Droge brauchen, um Suchtverhalten zu zeigen.

Buchstäblich alles, was Freude macht, eignet sich als Gegenstand einer Abhängigkeit. Im Belohnungssystem kommt es nicht darauf an, ob Dopaminstöße chemisch durch eine Zigarette ausgelöst werden oder von klingelndem Geld, das ein Spielautomat ausspuckt. Hat man die Erfahrung, dass auf die Geräusche eines einarmigen Banditen Gewinne folgen, nur oft genug wiederholt, dann entsteht im Kopf eine Verknüpfung von der Art, wie sie bei Kettenrauchern zwischen Streichholzzischen und Nikotinzufuhr herrscht. Das Gehirn lässt sich auf jeden starken Reiz programmieren: Nach Casinos oder Triumphen bei Online-Spielen kann ein unstillbares Verlangen entstehen, nach Nahrung, nach Shopping, nach Sex.

Der Volksmund spricht denn auch von Spielsucht, Esssucht und Sexsucht, wenn Menschen ihre Habe verzocken, unmäßige Mengen verschlingen oder sich in zerstörerische Beziehungen stürzen, weil sie von der körperlichen Liebe nicht genug kriegen können. Und Psychologen, um Symptome bei ihren Mitmenschen selten verlegen, gehen neuerdings mit Diagnosen wie Kaufsucht und Onlinesucht hausieren.

Aber handelt es sich bei solchen Leiden wirklich um Sucht? Nein, sagt die gängige Definition der Weltgesundheitsorganisation, denn zur Sucht gehöre stets der Konsum einer Droge. Doch mitunter erscheint diese Definition etwas willkürlich: Wenn ein Mann für Heroin sein Vermögen ausgibt, die Arbeit vernachlässigt und seine Familie zerstört, sähe man ihn gern im geschlossenen Entzug. Tut er aber dasselbe, weil sein Belohnungssystem auf eine neue Geliebte programmiert ist, finden seine Mitmenschen ihn einfach nur liebestoll. In beiden Fällen treibt den Mann ein überstarkes Verlangen, das alle anderen Ziele verdrängt. Als Neurowissenschaftler mit einem Kernspintomographen die Aktivität der einzelnen Zentren im Gehirn Verliebter untersuchten und sie mit jener in den Köpfen von Heroinsüchtigen verglichen, fanden sie mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede.

Eine viel diskutierte Theorie darüber, wer süchtig wird, liefert einen weiteren Hinweis auf die Verbindung zwischen Alltagsverhalten und Abhängigkeit. Ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung hat genetisch bedingt auf ihren grauen Zellen ungewöhnlich wenig Empfänger, an denen Dopamin andocken kann. Ein Gehirn aber, in dem die so genannten D2-Rezeptoren dünner gesät sind, verwertet das Dopamin schlechter – und braucht also mehr davon. Solche Menschen greifen statistisch gesehen öfter zu Drogen, sind aber auch in anderen Lebenslagen eher bereit, Risiken auf sich zu nehmen.

Trotzdem gebrauchen viele Psychiater lieber den Begriff „Impulskontrollstörungen“, wenn keine Droge im Spiel ist. Sie wenden ein, dass Drogensucht erstens den Hirnstoffwechsel ungleich stärker aus dem Gleichgewicht bringt als beispielsweise zwanghaftes Einkaufen. Zudem schädigt die Substanz auch andere Organe des Körpers – mit oft tödlichen Folgen. Alkoholiker sterben an Leberzirrhose, Raucher am Lungenkrebs; eine Frau hingegen, die keine Boutique ohne gefüllte Einkaufstüte verlassen kann, bringt zwar sich und ihr Konto in Schwierigkeiten, gefährdet aber nicht ihr Leben.

Wie ernst Ärzte Problem nehmen, hängt zudem davon ab, wie viele Menschen es betrifft. Während viele Millionen von Nikotin und Alkohol abhängig sind, ist die Zahl der angeblich nach dem Internet Süchtigen noch nicht einmal bekannt. Dass gerade dieses Leiden derzeit für so viel Aufsehen sorge, sei eine Modeerscheinung, vermuten Kritiker: Wenn es neuerdings eine Sucht geben soll, vor dem Computer zu sitzen – weshalb klagen Menschen dann nicht schon seit Jahrzehnten über Fernsehzwang?

Abhängigkeit entsteht umso schneller, je mehr Dopamin ein Suchtmittel freisetzt, denn diese Substanz programmiert das Gehirn. Und in dieser Hinsicht sind chemische Drogen weit potenter als andere Reize wie das Piepsen eines Onlinespiels oder das Glitzern der Schaufenster. Dass es tatsächlich auf die Dopamin-Ausschüttung ankommt, beweist der Vergleich verschiedener Drogen: Nikotin, Kokain und Heroin haben mit Abstand das höchste Suchtpotential, weil sie direkt auf das Dopaminsystem wirken (siehe Grafik Seite xx); Alkohol treibt sein Unwesen auf verschlungeneren Wegen, folglich dauert es bis zur Abhängigkeit länger; Cannabis und Ecstasy schließlich sind weniger wegen der Suchtgefahr gefährlich, sondern weil sie die Persönlichkeit verändern und das Gehirn anderweitig schädigen können.

Ein Belohnungssystem nämlich, das mit immer wieder denselben heftigen Reizen angeregt wird, beginnt sich die Dopamin-Schwemme zu gewöhnen. Auch wenn es vorher mit genug D2-Rezeptoren ausgestattet war, baut es diese Empfänger auf den grauen Zellen jetzt ab. Das ist der finale Schritt in die Sucht, der letzte Akt im Drama der Abhängigkeit. Von jetzt an verlangt das Gehirn dauerhaft nach mehr Dopamin als früher, sonst stellen sich sofort Unkonzentriertheit und Unwohlsein ein. Nur noch das Suchtmittel kann für Ausgleich sorgen, doch auch an einen noch höheren Pegel passen sich die Neuronen an. Noch mehr Rezeptoren verkümmern, das Hirn verlangt nach noch höhere Dosen.

Alle guten Vorsätze sind jetzt machtlos. Wer süchtig ist, leidet nicht an Willensschwäche, wie Mitmenschen oft unterstellen. Vielmehr ist der Drang nach der Droge unwiderstehlich, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sorgt sie für das dringend benötigte Dopamin, zum anderen haben sich die durch den Botenstoff vermittelten Lerneffekte tief eingeprägt. Die chemische Wirkung der Droge – Dopamin wird frei – verbindet sich auf fatale Weise mit den Erlebnissen, die der Süchtige hat, wenn er raucht, trinkt oder schnupft.

Dass dabei enorme Mengen Dopamin im Kopf zirkulieren, kann das Gehirn nur so werten, als verspreche der bloße Anblick einer Flasche oder das Knistern des Zigarettenpapiers ein unwiderstehlich gutes Erlebnis. Fortan löst schon die leiseste Erinnerung an irgend etwas, das mit dem Suchtmittel zu tun hat, ein wildes und völlig unkontrollierbare Verlagen aus. Diesen Geisteszustand nennen Suchtforscher „Craving“, und er kann Abhängige in die Selbstzerstörung treiben. Denn die unbewusste Programmierung auf die Droge ist so stark, dass sie Menschen zu Zombies macht – zu Wesen, die handeln, als wären sie von fremden Mächten gesteuert. Sucht ist die größte denkbare Unfreiheit.

„Welches Entsetzen, wenn nur noch ein paar Gramm im Haus waren“, bekannte der einst kokainsüchtige Liedermacher Konstantin Wecker. „Wände wurden aufgeschlagen, hinter denen ich Depots vermutete, Möbel zerfetzt in der Hoffnung, Reste zu finden — wie unwürdig, wie sehr ekelte ich mich vor mir selbst. Ich liebte meinen Dealer, der mich sehr fair belieferte, und als ich ihm vor Gericht Anstand bescheinigte, kam das von Herzen.“

Während die körperlichen Qualen vorübergehen, wenn ein Abhängiger aussteigt, bleibt die Programmierung auf die Droge für immer bestehen. Das Gehirn hat keine Löschtaste. Auch Jahrzehnte nach dem letzten Drogenkonsum sind die Reflexe lebendig. Der Geruch einer Rumtorte, das Leuchten eines Feuerzeugs, Mehl, weiß wie Kokain, oder auch nur ein Gedanke daran – sofort meldet sich das Belohnungssystem und erzeugt wieder das wilde Verlagen. Sucht heilt nicht aus, und schon gar nicht lässt sie sich in einer einmaligen Willensanstrengung besiegen. Die Chancen, sich zu befreien, stehen zwar gut – aber nur für den, der auf die Spuren dieses Leidens sein Leben lang Rücksicht nimmt. Abhängigkeit ist, wie Bluthochdruck oder Diabetes, eine chronische Krankheit.

Drogentherapien zielen heute denn auch darauf ab, die Widerstandskräfte zu stärken. Da der Ex-Süchtige schwerlich allen Verführungen ausweichen kann, muss er lernen, die Hinweise auf die Droge weniger wichtig zu nehmen. Im ersten Schritt analysieren Verhaltenstherapeuten mit ihren Patienten, welche Reize den Griff zum Suchtmittel auslösen; im zweiten Schritt wird diese Automatik durchbrochen. Wer sich zum Beispiel stets eine Zigarette anzündete, sobald er die Autotür hinter sich schloss, soll sich nun angewöhnen, sofort den Zündschlüssel umzudrehen. Dazu gilt es, den eigenen Verstand zu kontrollieren: Sobald man merkt, dass sich auch nur der leiseste Gedanke an die Droge im bemerkbar macht, ruft man innerlich „Stopp!“ und wendet seine Aufmerksamkeit sofort anderen Reizen zu. Wie ein Zensor mit der Schere im Kopf zu hantieren, klingt ungewohnt, lässt sich aber trainieren. Unter dem etwas hochtrabenden Titel „kognitive Verhaltenstherapie“ hat sich diese Strategie als überaus wirksam erwiesen. Mit der Zeit keimen die zwanghaften Gedanken an die Droge immer seltener auf.

Die neuen Erkenntnisse über die Natur der Sucht strafen altbekannte Weisheiten über Suchttherapie Lügen – etwa, dass der Abhängige erst in der Gosse liegen muss, damit er die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennt und eine Behandlung sinnvoll sein kann. Tatsächlich leiden die meisten Opfer bereits in viel frühen Stadien hinreichend unter ihrer Abhängigkeit. Schließlich hat Sucht mit dem Genuss der Droge nicht mehr das Geringste zu tun, sondern bedeutet Getriebensein, Ohnmacht und Scham. Eine Therapie verspricht umso mehr Erfolg, je eher sie beginnt, weil sich die Programmierung auf das Suchtmittel mit der Zeit weiter verfestigt.

Und ein mitunter tödlicher Irrtum ist der Glaube, Rückfälle seien harmlos. Weil das Gehirn jedes Suchtkranken unauslöschlich auf den Konsum der Droge geprägt ist, droht jeder neue Griff zur Zigarette oder zur Flasche alle Fortschritte sofort zunichte zu machen. Ein Rückfall ist kein Grund zu Panik, wohl aber ein Notfall, der sofortige Behandlung erfordert.

Die eigenen Widerstandskräfte zu stärken heißt auch, seinen Bedürfnissen besser nachzukommen. Wer die Ängste besiegt, die er einst mit Alkohol wegschwemmen wollte, erliegt der Versuchung weniger leicht. Wer sich Strategien aneignet, um in Stresssituationen ruhig Blut zu bewahren, denkt nicht mehr so oft an die Zigarette. Und wer früher zu Speed griff, weil er seinen Alltag grau fand, ist gut beraten, eine aufregende Sportart zu lernen. Klettern und Fallschirmspringen sind nicht nur harmloser als das Zeug vom Dealer, sondern auch viel interessanter.

Der Schlüssel zum Leben ohne Sucht ist, den künstlichen Paradiesen ein farbiges Leben entgegenzusetzen. Viele Betroffene müssen neu lernen, sich etwas Gutes zu tun, und dies zu genießen. Zudem gilt es, das von der Drogenkarriere arg ramponierte Selbstwertgefühl zurückzugewinnen. Wenn man endlich wieder seine Tage voll auskosten kann, schwindet auch die Anziehungskraft der Droge.

Ein anregendes Leben, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zum Genuss sind entscheidend dafür, dass Menschen nicht wieder oder gar nicht erst abhängig werden. Für diese Erkenntnis ist unsere Gesellschaft immer noch merkwürdig blind. Wer immer über Sucht redet, spricht verteufelnd oder auch bewundernd von Drogen. Aber Drogen sind nur eine Fata Morgana von Glück; ihr läuft nach, wer kein anderes Ziel hat.

Eine Gesellschaft, die ernsthaft gegen Sucht vorgehen will, würde endlich den Marlboro-Mann von deutschen Kinoleinwänden vertreiben, der Jugendliche noch immer mit Trugbildern von Freiheit und Abenteuer verlockt. Vor allem aber würde diese Gesellschaft ihre jungen Menschen dabei unterstützen, echte Freiheiten und Abenteuer zu erleben – indem sie jedem die Chance gibt, die eigenen Fähigkeiten optimal zu entwickeln.